Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der allgem. Vernunftwahrheiten, etc.
von ihrer gewöhnlichen Richtung bis dahin abgelenket
werden kann.

9.

Noch eine andere Frage ist es, ob und in wie ferne
alle verursachende Verknüpfungen überhaupt wegver-
nünftelt werden können? Wir haben ein Axiom der Ver-
nunft: Nichts entstehet ohne eine Ursache. Lasset
uns annehmen, bey jeder bestimmten Wirkung, die wir
für entstanden erkennen, lasse sich keine bestimmte Ur-
sache angeben, bey der nicht gezweifelt werden könne, daß
sie die wahre sey; sollte denn der Verstand auch daran
zweifeln können, ob es überhaupt eine Ursache eines sol-
chen werdenden Dinges in oder außer uns geben wüsse?
Selbst Berkeley, und der schon oft erwähnte Virtuos
im Skepticiren, Hr. Hume, als Verfasser der Schrift:
über die Natur des Menschen, haben von diesem Axiom
der Vernunft, "daß ein werdendes Ding eine Ursache
habe und haben müsse," Anwendung und Gebrauch ge-
macht, obgleich der letztere solches als einen durchaus und
nothwendig allgemeinen Grundsatz bezweifelt hat.

Wir sehen alle Tage gewisse Scheine, und hören
Schallarten, die hervorkommen, ohne daß wir von ei-
nem andern sie verursachenden Dinge etwas empfin-
den, ja ohne uns um ein solches einmal zu bekümmern.
Wir haben also Empfindungen, aus denen sich ein Be-
griff von Dingen abstrahiren ließe, die entstehen und
vergehen, ohne daß sonsten etwas vorhanden sey, das sie
hervorbringet, oder vernichtet. Diese Abstraktion "von
Dingen, die ohne Ursache, von selbst, geworden sind,"
haben auch einige Philosophen nicht nur gehabt, oder es
doch wenigstens geglaubt, sie zu haben, sondern sie auch
auf Fakta in der Welt angewendet. Es scheinet doch
also, so schlechthin der Denkkraft nicht nothwendig zu
seyn, mit der Jdee eines werdenden oder geworde-

nen
J i 3

der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
von ihrer gewoͤhnlichen Richtung bis dahin abgelenket
werden kann.

9.

Noch eine andere Frage iſt es, ob und in wie ferne
alle verurſachende Verknuͤpfungen uͤberhaupt wegver-
nuͤnftelt werden koͤnnen? Wir haben ein Axiom der Ver-
nunft: Nichts entſtehet ohne eine Urſache. Laſſet
uns annehmen, bey jeder beſtimmten Wirkung, die wir
fuͤr entſtanden erkennen, laſſe ſich keine beſtimmte Ur-
ſache angeben, bey der nicht gezweifelt werden koͤnne, daß
ſie die wahre ſey; ſollte denn der Verſtand auch daran
zweifeln koͤnnen, ob es uͤberhaupt eine Urſache eines ſol-
chen werdenden Dinges in oder außer uns geben wuͤſſe?
Selbſt Berkeley, und der ſchon oft erwaͤhnte Virtuos
im Skepticiren, Hr. Hume, als Verfaſſer der Schrift:
uͤber die Natur des Menſchen, haben von dieſem Axiom
der Vernunft, „daß ein werdendes Ding eine Urſache
habe und haben muͤſſe,‟ Anwendung und Gebrauch ge-
macht, obgleich der letztere ſolches als einen durchaus und
nothwendig allgemeinen Grundſatz bezweifelt hat.

Wir ſehen alle Tage gewiſſe Scheine, und hoͤren
Schallarten, die hervorkommen, ohne daß wir von ei-
nem andern ſie verurſachenden Dinge etwas empfin-
den, ja ohne uns um ein ſolches einmal zu bekuͤmmern.
Wir haben alſo Empfindungen, aus denen ſich ein Be-
griff von Dingen abſtrahiren ließe, die entſtehen und
vergehen, ohne daß ſonſten etwas vorhanden ſey, das ſie
hervorbringet, oder vernichtet. Dieſe Abſtraktion „von
Dingen, die ohne Urſache, von ſelbſt, geworden ſind,‟
haben auch einige Philoſophen nicht nur gehabt, oder es
doch wenigſtens geglaubt, ſie zu haben, ſondern ſie auch
auf Fakta in der Welt angewendet. Es ſcheinet doch
alſo, ſo ſchlechthin der Denkkraft nicht nothwendig zu
ſeyn, mit der Jdee eines werdenden oder geworde-

nen
J i 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0561" n="501"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der allgem. Vernunftwahrheiten, &#x204A;c.</hi></fw><lb/>
von ihrer gewo&#x0364;hnlichen Richtung bis dahin abgelenket<lb/>
werden kann.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>9.</head><lb/>
            <p>Noch eine andere Frage i&#x017F;t es, ob und in wie ferne<lb/>
alle verur&#x017F;achende Verknu&#x0364;pfungen u&#x0364;berhaupt wegver-<lb/>
nu&#x0364;nftelt werden ko&#x0364;nnen? Wir haben ein Axiom der Ver-<lb/>
nunft: <hi rendition="#fr">Nichts ent&#x017F;tehet ohne eine Ur&#x017F;ache.</hi> La&#x017F;&#x017F;et<lb/>
uns annehmen, bey jeder be&#x017F;timmten Wirkung, die wir<lb/>
fu&#x0364;r <hi rendition="#fr">ent&#x017F;tanden</hi> erkennen, la&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ich keine be&#x017F;timmte Ur-<lb/>
&#x017F;ache angeben, bey der nicht gezweifelt werden ko&#x0364;nne, daß<lb/>
&#x017F;ie die wahre &#x017F;ey; &#x017F;ollte denn der Ver&#x017F;tand auch daran<lb/>
zweifeln ko&#x0364;nnen, ob es u&#x0364;berhaupt eine Ur&#x017F;ache eines &#x017F;ol-<lb/>
chen <hi rendition="#fr">werdenden</hi> Dinges in oder außer uns geben wu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e?<lb/>
Selb&#x017F;t <hi rendition="#fr">Berkeley,</hi> und der &#x017F;chon oft erwa&#x0364;hnte Virtuos<lb/>
im Skepticiren, Hr. <hi rendition="#fr">Hume,</hi> als Verfa&#x017F;&#x017F;er der Schrift:<lb/>
u&#x0364;ber die Natur des Men&#x017F;chen, haben von die&#x017F;em Axiom<lb/>
der Vernunft, &#x201E;daß ein <hi rendition="#fr">werdendes</hi> Ding eine Ur&#x017F;ache<lb/>
habe und haben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e,&#x201F; Anwendung und Gebrauch ge-<lb/>
macht, obgleich der letztere &#x017F;olches als einen durchaus und<lb/>
nothwendig allgemeinen Grund&#x017F;atz bezweifelt hat.</p><lb/>
            <p>Wir &#x017F;ehen alle Tage gewi&#x017F;&#x017F;e Scheine, und ho&#x0364;ren<lb/>
Schallarten, die hervorkommen, ohne daß wir von ei-<lb/>
nem andern &#x017F;ie <hi rendition="#fr">verur&#x017F;achenden</hi> Dinge etwas empfin-<lb/>
den, ja ohne uns um ein &#x017F;olches einmal zu beku&#x0364;mmern.<lb/>
Wir haben al&#x017F;o Empfindungen, aus denen &#x017F;ich ein Be-<lb/>
griff von Dingen ab&#x017F;trahiren ließe, die ent&#x017F;tehen und<lb/>
vergehen, ohne daß &#x017F;on&#x017F;ten etwas vorhanden &#x017F;ey, das &#x017F;ie<lb/>
hervorbringet, oder vernichtet. Die&#x017F;e Ab&#x017F;traktion &#x201E;von<lb/>
Dingen, die ohne Ur&#x017F;ache, von &#x017F;elb&#x017F;t, geworden &#x017F;ind,&#x201F;<lb/>
haben auch einige Philo&#x017F;ophen nicht nur gehabt, oder es<lb/>
doch wenig&#x017F;tens geglaubt, &#x017F;ie zu haben, &#x017F;ondern &#x017F;ie auch<lb/>
auf Fakta in der Welt angewendet. Es &#x017F;cheinet doch<lb/>
al&#x017F;o, &#x017F;o &#x017F;chlechthin der Denkkraft nicht nothwendig zu<lb/>
&#x017F;eyn, mit der Jdee eines <hi rendition="#fr">werdenden</hi> oder <hi rendition="#fr">geworde-</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">J i 3</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">nen</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[501/0561] der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c. von ihrer gewoͤhnlichen Richtung bis dahin abgelenket werden kann. 9. Noch eine andere Frage iſt es, ob und in wie ferne alle verurſachende Verknuͤpfungen uͤberhaupt wegver- nuͤnftelt werden koͤnnen? Wir haben ein Axiom der Ver- nunft: Nichts entſtehet ohne eine Urſache. Laſſet uns annehmen, bey jeder beſtimmten Wirkung, die wir fuͤr entſtanden erkennen, laſſe ſich keine beſtimmte Ur- ſache angeben, bey der nicht gezweifelt werden koͤnne, daß ſie die wahre ſey; ſollte denn der Verſtand auch daran zweifeln koͤnnen, ob es uͤberhaupt eine Urſache eines ſol- chen werdenden Dinges in oder außer uns geben wuͤſſe? Selbſt Berkeley, und der ſchon oft erwaͤhnte Virtuos im Skepticiren, Hr. Hume, als Verfaſſer der Schrift: uͤber die Natur des Menſchen, haben von dieſem Axiom der Vernunft, „daß ein werdendes Ding eine Urſache habe und haben muͤſſe,‟ Anwendung und Gebrauch ge- macht, obgleich der letztere ſolches als einen durchaus und nothwendig allgemeinen Grundſatz bezweifelt hat. Wir ſehen alle Tage gewiſſe Scheine, und hoͤren Schallarten, die hervorkommen, ohne daß wir von ei- nem andern ſie verurſachenden Dinge etwas empfin- den, ja ohne uns um ein ſolches einmal zu bekuͤmmern. Wir haben alſo Empfindungen, aus denen ſich ein Be- griff von Dingen abſtrahiren ließe, die entſtehen und vergehen, ohne daß ſonſten etwas vorhanden ſey, das ſie hervorbringet, oder vernichtet. Dieſe Abſtraktion „von Dingen, die ohne Urſache, von ſelbſt, geworden ſind,‟ haben auch einige Philoſophen nicht nur gehabt, oder es doch wenigſtens geglaubt, ſie zu haben, ſondern ſie auch auf Fakta in der Welt angewendet. Es ſcheinet doch alſo, ſo ſchlechthin der Denkkraft nicht nothwendig zu ſeyn, mit der Jdee eines werdenden oder geworde- nen J i 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/561
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/561>, abgerufen am 19.04.2024.