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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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VII. Versuch. Von der Nothwendigkeit
wickelter Vernunftschlüsse bedienen; aber es sollte da, wo
es angeht, ein Ziel seyn, wonach auch ein Philosoph
dann, wenn sonsten die Raisonnements noch wohl zur
Ueberzeugung hinreichen, möglichst zu beachten hat. Und
diese Fertigkeit kann noch immer stärker und fester wer-
den, so lange noch eine mittelbare Kenntniß in eine un-
mittelbare, durch die genauere und schnellere Vereini-
gung der Mittelbegriffe verändert werden kann. Dieß
Bestreben, bey jedem Gegenstand dasjenige aufzusuchen,
was aus der Betrachtung desselben ohne merkliche Ent-
wickelung der Begriffe erkannt wird, gewähret überdieß
den außerordentlich großen Vortheil, das die Raisonne-
mentskenntnisse, die fast alle in einseitigen Aussichten
bestehen, beständig mit dem Anschauen des ganzen Ge-
genstandes wiederum vereiniget werden. Dadurch wird
vielen schiefen Beurtheilungen, so mancherley Uebersicht
und Doppelsicht, vorgebogen, die man am häufigsten bey
solchen Leuten antrift, welche sich am meisten angewöh-
net haben, bey jeder Sache sogleich auf das zu sehen,
was durch die Entwickelung der Jdeen, und durch
Schlüsse aus allgemeinen Grundsätzen, sich erkennen
läßt, und die nur darnach, das ist, nach einzeln obgleich
scharfen Seitenblicken sie beurtheilen.

Ueberhaupt wird man finden, daß die neuern theo-
retischen und praktischen Bemerkungen über den Men-
schenverstand nichts sind, als was mit andern Worten
und in andern Verbindungen schon in den ältern Logiken
und Phychologien gesagt ist. Nur ein veränderter Ge-
sichtspunkt war es, aus dem man die sonst bekannten Er-
kenntnißvermögen betrachtete, und eine veränderte Art
zu reden, welche doch auch ihre guten Wirkungen ge-
habt hat.

2.

Man mag das Wort, Gemeine Verstand, nun
nehmen, in welcher Bedeutung man wolle, so ist es

für

VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
wickelter Vernunftſchluͤſſe bedienen; aber es ſollte da, wo
es angeht, ein Ziel ſeyn, wonach auch ein Philoſoph
dann, wenn ſonſten die Raiſonnements noch wohl zur
Ueberzeugung hinreichen, moͤglichſt zu beachten hat. Und
dieſe Fertigkeit kann noch immer ſtaͤrker und feſter wer-
den, ſo lange noch eine mittelbare Kenntniß in eine un-
mittelbare, durch die genauere und ſchnellere Vereini-
gung der Mittelbegriffe veraͤndert werden kann. Dieß
Beſtreben, bey jedem Gegenſtand dasjenige aufzuſuchen,
was aus der Betrachtung deſſelben ohne merkliche Ent-
wickelung der Begriffe erkannt wird, gewaͤhret uͤberdieß
den außerordentlich großen Vortheil, das die Raiſonne-
mentskenntniſſe, die faſt alle in einſeitigen Ausſichten
beſtehen, beſtaͤndig mit dem Anſchauen des ganzen Ge-
genſtandes wiederum vereiniget werden. Dadurch wird
vielen ſchiefen Beurtheilungen, ſo mancherley Ueberſicht
und Doppelſicht, vorgebogen, die man am haͤufigſten bey
ſolchen Leuten antrift, welche ſich am meiſten angewoͤh-
net haben, bey jeder Sache ſogleich auf das zu ſehen,
was durch die Entwickelung der Jdeen, und durch
Schluͤſſe aus allgemeinen Grundſaͤtzen, ſich erkennen
laͤßt, und die nur darnach, das iſt, nach einzeln obgleich
ſcharfen Seitenblicken ſie beurtheilen.

Ueberhaupt wird man finden, daß die neuern theo-
retiſchen und praktiſchen Bemerkungen uͤber den Men-
ſchenverſtand nichts ſind, als was mit andern Worten
und in andern Verbindungen ſchon in den aͤltern Logiken
und Phychologien geſagt iſt. Nur ein veraͤnderter Ge-
ſichtspunkt war es, aus dem man die ſonſt bekannten Er-
kenntnißvermoͤgen betrachtete, und eine veraͤnderte Art
zu reden, welche doch auch ihre guten Wirkungen ge-
habt hat.

2.

Man mag das Wort, Gemeine Verſtand, nun
nehmen, in welcher Bedeutung man wolle, ſo iſt es

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[526/0586] VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit wickelter Vernunftſchluͤſſe bedienen; aber es ſollte da, wo es angeht, ein Ziel ſeyn, wonach auch ein Philoſoph dann, wenn ſonſten die Raiſonnements noch wohl zur Ueberzeugung hinreichen, moͤglichſt zu beachten hat. Und dieſe Fertigkeit kann noch immer ſtaͤrker und feſter wer- den, ſo lange noch eine mittelbare Kenntniß in eine un- mittelbare, durch die genauere und ſchnellere Vereini- gung der Mittelbegriffe veraͤndert werden kann. Dieß Beſtreben, bey jedem Gegenſtand dasjenige aufzuſuchen, was aus der Betrachtung deſſelben ohne merkliche Ent- wickelung der Begriffe erkannt wird, gewaͤhret uͤberdieß den außerordentlich großen Vortheil, das die Raiſonne- mentskenntniſſe, die faſt alle in einſeitigen Ausſichten beſtehen, beſtaͤndig mit dem Anſchauen des ganzen Ge- genſtandes wiederum vereiniget werden. Dadurch wird vielen ſchiefen Beurtheilungen, ſo mancherley Ueberſicht und Doppelſicht, vorgebogen, die man am haͤufigſten bey ſolchen Leuten antrift, welche ſich am meiſten angewoͤh- net haben, bey jeder Sache ſogleich auf das zu ſehen, was durch die Entwickelung der Jdeen, und durch Schluͤſſe aus allgemeinen Grundſaͤtzen, ſich erkennen laͤßt, und die nur darnach, das iſt, nach einzeln obgleich ſcharfen Seitenblicken ſie beurtheilen. Ueberhaupt wird man finden, daß die neuern theo- retiſchen und praktiſchen Bemerkungen uͤber den Men- ſchenverſtand nichts ſind, als was mit andern Worten und in andern Verbindungen ſchon in den aͤltern Logiken und Phychologien geſagt iſt. Nur ein veraͤnderter Ge- ſichtspunkt war es, aus dem man die ſonſt bekannten Er- kenntnißvermoͤgen betrachtete, und eine veraͤnderte Art zu reden, welche doch auch ihre guten Wirkungen ge- habt hat. 2. Man mag das Wort, Gemeine Verſtand, nun nehmen, in welcher Bedeutung man wolle, ſo iſt es fuͤr

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/586>, abgerufen am 25.04.2024.