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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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VII. Versuch. Von der Nothwendigkeit
Denkkräfte werden vorausgesetzt, wenn die Frage ist, ob
die von uns gedachten Verhältnisse der Objekte dieselbi-
gen sind, welche jede andere Denkkräfte von denselbigen
haben müssen? Die Dinge sind an sich einerley oder
verschieden, das heißt auch nichts mehr, als sie sind es
vor jedweder Wesensart, welche die Verhältnisse der
Einerleyheit und der Verschiedenheit gedenken kann.

Man schließe hieraus nicht, die Frage habe vielleicht
gar keinen Sinn und gehöre zu der alten Scholastik.
Man setze an statt der Wörter, objektivisch und sub-
jektivisch,
die Wörter unveränderlich subjektivisch
und veränderlich subjektivisch, so ist es nicht nöthig
auf die Denkkräfte anderer Wesen Rücksicht zu nehmen,
von denen wir keine Begriffe haben, und dennoch zeiget
es sich, wie viel sie bedeute? Es ist das nämliche, wenn
wir fragen, was hängt von der besondern Einrichtung
unserer Organe ab, und von unserer jetzigen Verfassung?
was ist dagegen nothwendig und immer so, und bleibet
so, wie auch die körperlichen Werkzeuge unsers Denkens
verändert werden möchten, so lange unser Jch nur ein
denkendes Wesen bleibet?

3.

Diese beyden Punkte voraus festgesetzt, wodurch al-
les Wortgezänk vermieden wird, so ist das erste, wor-
über etwas entschieden werden kann, dieses: "Ob die
"nothwendigen Denkgesetze unsers Verstandes nur sub-
"jektivische Gesetze unserer Denkkraft sind, oder ob sie
"Gesetze jeder Denkkraft überhaupt sind? und dann auch,
"ob die allgemeinen Vernunftwahrheiten nur Wahrhei-
"ten vor uns sind, oder Allgemeinsätze vor jeder Ver-
"nunft?"

Der Grundsatz des Widerspruchs soll das Beyspiel
seyn. Mit den übrigen die von diesem abhangen, oder
die mit gleicher subjektivischen Nothwendigkeit als Axio-

me

VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
Denkkraͤfte werden vorausgeſetzt, wenn die Frage iſt, ob
die von uns gedachten Verhaͤltniſſe der Objekte dieſelbi-
gen ſind, welche jede andere Denkkraͤfte von denſelbigen
haben muͤſſen? Die Dinge ſind an ſich einerley oder
verſchieden, das heißt auch nichts mehr, als ſie ſind es
vor jedweder Weſensart, welche die Verhaͤltniſſe der
Einerleyheit und der Verſchiedenheit gedenken kann.

Man ſchließe hieraus nicht, die Frage habe vielleicht
gar keinen Sinn und gehoͤre zu der alten Scholaſtik.
Man ſetze an ſtatt der Woͤrter, objektiviſch und ſub-
jektiviſch,
die Woͤrter unveraͤnderlich ſubjektiviſch
und veraͤnderlich ſubjektiviſch, ſo iſt es nicht noͤthig
auf die Denkkraͤfte anderer Weſen Ruͤckſicht zu nehmen,
von denen wir keine Begriffe haben, und dennoch zeiget
es ſich, wie viel ſie bedeute? Es iſt das naͤmliche, wenn
wir fragen, was haͤngt von der beſondern Einrichtung
unſerer Organe ab, und von unſerer jetzigen Verfaſſung?
was iſt dagegen nothwendig und immer ſo, und bleibet
ſo, wie auch die koͤrperlichen Werkzeuge unſers Denkens
veraͤndert werden moͤchten, ſo lange unſer Jch nur ein
denkendes Weſen bleibet?

3.

Dieſe beyden Punkte voraus feſtgeſetzt, wodurch al-
les Wortgezaͤnk vermieden wird, ſo iſt das erſte, wor-
uͤber etwas entſchieden werden kann, dieſes: „Ob die
„nothwendigen Denkgeſetze unſers Verſtandes nur ſub-
„jektiviſche Geſetze unſerer Denkkraft ſind, oder ob ſie
„Geſetze jeder Denkkraft uͤberhaupt ſind? und dann auch,
„ob die allgemeinen Vernunftwahrheiten nur Wahrhei-
„ten vor uns ſind, oder Allgemeinſaͤtze vor jeder Ver-
„nunft?‟

Der Grundſatz des Widerſpruchs ſoll das Beyſpiel
ſeyn. Mit den uͤbrigen die von dieſem abhangen, oder
die mit gleicher ſubjektiviſchen Nothwendigkeit als Axio-

me
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[540/0600] VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit Denkkraͤfte werden vorausgeſetzt, wenn die Frage iſt, ob die von uns gedachten Verhaͤltniſſe der Objekte dieſelbi- gen ſind, welche jede andere Denkkraͤfte von denſelbigen haben muͤſſen? Die Dinge ſind an ſich einerley oder verſchieden, das heißt auch nichts mehr, als ſie ſind es vor jedweder Weſensart, welche die Verhaͤltniſſe der Einerleyheit und der Verſchiedenheit gedenken kann. Man ſchließe hieraus nicht, die Frage habe vielleicht gar keinen Sinn und gehoͤre zu der alten Scholaſtik. Man ſetze an ſtatt der Woͤrter, objektiviſch und ſub- jektiviſch, die Woͤrter unveraͤnderlich ſubjektiviſch und veraͤnderlich ſubjektiviſch, ſo iſt es nicht noͤthig auf die Denkkraͤfte anderer Weſen Ruͤckſicht zu nehmen, von denen wir keine Begriffe haben, und dennoch zeiget es ſich, wie viel ſie bedeute? Es iſt das naͤmliche, wenn wir fragen, was haͤngt von der beſondern Einrichtung unſerer Organe ab, und von unſerer jetzigen Verfaſſung? was iſt dagegen nothwendig und immer ſo, und bleibet ſo, wie auch die koͤrperlichen Werkzeuge unſers Denkens veraͤndert werden moͤchten, ſo lange unſer Jch nur ein denkendes Weſen bleibet? 3. Dieſe beyden Punkte voraus feſtgeſetzt, wodurch al- les Wortgezaͤnk vermieden wird, ſo iſt das erſte, wor- uͤber etwas entſchieden werden kann, dieſes: „Ob die „nothwendigen Denkgeſetze unſers Verſtandes nur ſub- „jektiviſche Geſetze unſerer Denkkraft ſind, oder ob ſie „Geſetze jeder Denkkraft uͤberhaupt ſind? und dann auch, „ob die allgemeinen Vernunftwahrheiten nur Wahrhei- „ten vor uns ſind, oder Allgemeinſaͤtze vor jeder Ver- „nunft?‟ Der Grundſatz des Widerſpruchs ſoll das Beyſpiel ſeyn. Mit den uͤbrigen die von dieſem abhangen, oder die mit gleicher ſubjektiviſchen Nothwendigkeit als Axio- me

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/600>, abgerufen am 29.03.2024.