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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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VII. Versuch. Von der Nothwendigkeit
"der Dinge, gegen einander in uns sind solche, als wir
"in ihnen gewahrnehmen, und nothwendig gewahrneh-
"men müssen." Darauf beruhet auch die absolute Noth-
wendigkeit der allgemeinen Theorien.

8.

Ein anderes Erfoderniß zur reellen objektivischen
Kenntniß ist folgendes: "Das Subjekt, und hier ist
"es unsere Seele, muß, indem es Jmpressionen von
"mehreren Gegenständen empfängt, innerlich dasselbige
"seyn; und ist es etwann in dem Fall, wenn es die eine
"empfängt, anders modificirt, als da, wo es die zwote
"erhält, so dörfen doch solche innere Verschiedenheiten
"keinen Einfluß in die Jmpressionen selbst haben, in so
"ferne man diese als Zeichen der Gegenstände gebrau-
"chet."

Die menschlichen Urtheile über die physischen Be-
schaffenheiten der Dinge, z. B. über Farben und Figu-
ren, sind übereinstimmender, als über ihre morali-
schen
und ästhetischen Eigenschaften. Die Urthei-
le über die Schönheit und Häßlichkeit, oder wie man
sich sonsten ausdrückt, die Schönheit selbst ist mehr blos
subjektivischer Natur, als die Urtheile über die Größen.
Der Grund davon lieget in der Entstehungsart dieser
Urtheile.

Der heitere Himmel erscheinet mir blau, die Blät-
ter der Bäume grün, und die Sonne leuchtend, ich
mag verdrießlich oder vergnügt, müssig oder beschäfti-
get sey, diese oder jene Jdeen im Kopf haben. So ver-
hält sichs nicht mit den Eindrücken auf die Empfindsam-
keit und aufs Herz. Mir ist dieselbige Jmpression jetzo
angenehm, die eine Stunde nachher Eckel verursachen
kann. Jene sind also von dem gegenwärtigen innern
Zustand der Seele weniger abhängig, als diese, und

richten

VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
„der Dinge, gegen einander in uns ſind ſolche, als wir
„in ihnen gewahrnehmen, und nothwendig gewahrneh-
„men muͤſſen.‟ Darauf beruhet auch die abſolute Noth-
wendigkeit der allgemeinen Theorien.

8.

Ein anderes Erfoderniß zur reellen objektiviſchen
Kenntniß iſt folgendes: „Das Subjekt, und hier iſt
„es unſere Seele, muß, indem es Jmpreſſionen von
„mehreren Gegenſtaͤnden empfaͤngt, innerlich daſſelbige
„ſeyn; und iſt es etwann in dem Fall, wenn es die eine
„empfaͤngt, anders modificirt, als da, wo es die zwote
„erhaͤlt, ſo doͤrfen doch ſolche innere Verſchiedenheiten
„keinen Einfluß in die Jmpreſſionen ſelbſt haben, in ſo
„ferne man dieſe als Zeichen der Gegenſtaͤnde gebrau-
„chet.‟

Die menſchlichen Urtheile uͤber die phyſiſchen Be-
ſchaffenheiten der Dinge, z. B. uͤber Farben und Figu-
ren, ſind uͤbereinſtimmender, als uͤber ihre morali-
ſchen
und aͤſthetiſchen Eigenſchaften. Die Urthei-
le uͤber die Schoͤnheit und Haͤßlichkeit, oder wie man
ſich ſonſten ausdruͤckt, die Schoͤnheit ſelbſt iſt mehr blos
ſubjektiviſcher Natur, als die Urtheile uͤber die Groͤßen.
Der Grund davon lieget in der Entſtehungsart dieſer
Urtheile.

Der heitere Himmel erſcheinet mir blau, die Blaͤt-
ter der Baͤume gruͤn, und die Sonne leuchtend, ich
mag verdrießlich oder vergnuͤgt, muͤſſig oder beſchaͤfti-
get ſey, dieſe oder jene Jdeen im Kopf haben. So ver-
haͤlt ſichs nicht mit den Eindruͤcken auf die Empfindſam-
keit und aufs Herz. Mir iſt dieſelbige Jmpreſſion jetzo
angenehm, die eine Stunde nachher Eckel verurſachen
kann. Jene ſind alſo von dem gegenwaͤrtigen innern
Zuſtand der Seele weniger abhaͤngig, als dieſe, und

richten
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[554/0614] VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit „der Dinge, gegen einander in uns ſind ſolche, als wir „in ihnen gewahrnehmen, und nothwendig gewahrneh- „men muͤſſen.‟ Darauf beruhet auch die abſolute Noth- wendigkeit der allgemeinen Theorien. 8. Ein anderes Erfoderniß zur reellen objektiviſchen Kenntniß iſt folgendes: „Das Subjekt, und hier iſt „es unſere Seele, muß, indem es Jmpreſſionen von „mehreren Gegenſtaͤnden empfaͤngt, innerlich daſſelbige „ſeyn; und iſt es etwann in dem Fall, wenn es die eine „empfaͤngt, anders modificirt, als da, wo es die zwote „erhaͤlt, ſo doͤrfen doch ſolche innere Verſchiedenheiten „keinen Einfluß in die Jmpreſſionen ſelbſt haben, in ſo „ferne man dieſe als Zeichen der Gegenſtaͤnde gebrau- „chet.‟ Die menſchlichen Urtheile uͤber die phyſiſchen Be- ſchaffenheiten der Dinge, z. B. uͤber Farben und Figu- ren, ſind uͤbereinſtimmender, als uͤber ihre morali- ſchen und aͤſthetiſchen Eigenſchaften. Die Urthei- le uͤber die Schoͤnheit und Haͤßlichkeit, oder wie man ſich ſonſten ausdruͤckt, die Schoͤnheit ſelbſt iſt mehr blos ſubjektiviſcher Natur, als die Urtheile uͤber die Groͤßen. Der Grund davon lieget in der Entſtehungsart dieſer Urtheile. Der heitere Himmel erſcheinet mir blau, die Blaͤt- ter der Baͤume gruͤn, und die Sonne leuchtend, ich mag verdrießlich oder vergnuͤgt, muͤſſig oder beſchaͤfti- get ſey, dieſe oder jene Jdeen im Kopf haben. So ver- haͤlt ſichs nicht mit den Eindruͤcken auf die Empfindſam- keit und aufs Herz. Mir iſt dieſelbige Jmpreſſion jetzo angenehm, die eine Stunde nachher Eckel verurſachen kann. Jene ſind alſo von dem gegenwaͤrtigen innern Zuſtand der Seele weniger abhaͤngig, als dieſe, und richten

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 554. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/614>, abgerufen am 28.03.2024.