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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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IX. Versuch. Ueber das Grundprincip


Neunter Versuch.
Ueber das Grundprincip des Empfindens,
des Vorstellens und des Denkens.
I.
Bestimmung des zu untersuchenden Punkts.

Aus den vorhergehenden Untersuchungen halte ich
mich für berechtigt, es als einen Grundsatz der
Erfahrung anzunehmen, daß zu den Wirkungen der
menschlichen Erkenntnißkraft keine andern mehr als diese
drey Seelenvermögen, das Gefühl, die vorstellende
Kraft,
und die Denkkraft, erfodert werden. Alle
Thätigkeiten der Erkenntnißkraft, von den ersten sinnli-
chen Aeußerungen an bis zu ihren feinsten und höchsten
Spekulationen, bestehen in Fühlen, im Vorstellen und
im Denken. Diese Vermögen sind schon wirksam in
dem ersten einfachsten Gewahrnehmen, das ist, in den
ersten Aeußerungen des Verstandes; aber es sind auch
keine andern, als eben diese, welche man in den höch-
sten Wirkungen der aufgeklärtesten Vernunft antrift.

Daraus kann nun zwar gerade zu nicht geschlossen
werden, daß jedes Wesen, welches Gewahrnehmen
kann, auch schon die gesammte Anlage zu dem menschli-
chen Verstande in sich enthalte. Denn es ist zugleich
aus den vorhergegangenen Betrachtungen offenbar, daß
ein jedes dieser einfachen Vermögen auch mit einem
Grade von Perfektibilität begabt seyn müsse, der viel-
leicht fehlen könnte, wenn auch das Vermögen selbst vor-
handen wäre. Vielleicht kann die thierische Denkkraft
bis zur Apperception der Sachen, der Objekte, der
sinnlichen Objekte gehen, aber nicht zu der Gewahrneh-

mung
IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip


Neunter Verſuch.
Ueber das Grundprincip des Empfindens,
des Vorſtellens und des Denkens.
I.
Beſtimmung des zu unterſuchenden Punkts.

Aus den vorhergehenden Unterſuchungen halte ich
mich fuͤr berechtigt, es als einen Grundſatz der
Erfahrung anzunehmen, daß zu den Wirkungen der
menſchlichen Erkenntnißkraft keine andern mehr als dieſe
drey Seelenvermoͤgen, das Gefuͤhl, die vorſtellende
Kraft,
und die Denkkraft, erfodert werden. Alle
Thaͤtigkeiten der Erkenntnißkraft, von den erſten ſinnli-
chen Aeußerungen an bis zu ihren feinſten und hoͤchſten
Spekulationen, beſtehen in Fuͤhlen, im Vorſtellen und
im Denken. Dieſe Vermoͤgen ſind ſchon wirkſam in
dem erſten einfachſten Gewahrnehmen, das iſt, in den
erſten Aeußerungen des Verſtandes; aber es ſind auch
keine andern, als eben dieſe, welche man in den hoͤch-
ſten Wirkungen der aufgeklaͤrteſten Vernunft antrift.

Daraus kann nun zwar gerade zu nicht geſchloſſen
werden, daß jedes Weſen, welches Gewahrnehmen
kann, auch ſchon die geſammte Anlage zu dem menſchli-
chen Verſtande in ſich enthalte. Denn es iſt zugleich
aus den vorhergegangenen Betrachtungen offenbar, daß
ein jedes dieſer einfachen Vermoͤgen auch mit einem
Grade von Perfektibilitaͤt begabt ſeyn muͤſſe, der viel-
leicht fehlen koͤnnte, wenn auch das Vermoͤgen ſelbſt vor-
handen waͤre. Vielleicht kann die thieriſche Denkkraft
bis zur Apperception der Sachen, der Objekte, der
ſinnlichen Objekte gehen, aber nicht zu der Gewahrneh-

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[590/0650] IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip Neunter Verſuch. Ueber das Grundprincip des Empfindens, des Vorſtellens und des Denkens. I. Beſtimmung des zu unterſuchenden Punkts. Aus den vorhergehenden Unterſuchungen halte ich mich fuͤr berechtigt, es als einen Grundſatz der Erfahrung anzunehmen, daß zu den Wirkungen der menſchlichen Erkenntnißkraft keine andern mehr als dieſe drey Seelenvermoͤgen, das Gefuͤhl, die vorſtellende Kraft, und die Denkkraft, erfodert werden. Alle Thaͤtigkeiten der Erkenntnißkraft, von den erſten ſinnli- chen Aeußerungen an bis zu ihren feinſten und hoͤchſten Spekulationen, beſtehen in Fuͤhlen, im Vorſtellen und im Denken. Dieſe Vermoͤgen ſind ſchon wirkſam in dem erſten einfachſten Gewahrnehmen, das iſt, in den erſten Aeußerungen des Verſtandes; aber es ſind auch keine andern, als eben dieſe, welche man in den hoͤch- ſten Wirkungen der aufgeklaͤrteſten Vernunft antrift. Daraus kann nun zwar gerade zu nicht geſchloſſen werden, daß jedes Weſen, welches Gewahrnehmen kann, auch ſchon die geſammte Anlage zu dem menſchli- chen Verſtande in ſich enthalte. Denn es iſt zugleich aus den vorhergegangenen Betrachtungen offenbar, daß ein jedes dieſer einfachen Vermoͤgen auch mit einem Grade von Perfektibilitaͤt begabt ſeyn muͤſſe, der viel- leicht fehlen koͤnnte, wenn auch das Vermoͤgen ſelbſt vor- handen waͤre. Vielleicht kann die thieriſche Denkkraft bis zur Apperception der Sachen, der Objekte, der ſinnlichen Objekte gehen, aber nicht zu der Gewahrneh- mung

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 590. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/650>, abgerufen am 19.04.2024.