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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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XI. Versuch. Ueber die Grundkraft

Die erste Meinung ist unwahrscheinlich, und zwar
in einem hohen Grad, und die zwote nicht viel minder.
Aber sie müssen beide als unrichtig vorausgesetzet werden,
ehe man in eine Untersuchung über den Charakter der
menschlichen unkörperlichen Seele sich einlassen, und
mit festen Schritten fortgehen kann. Da dieß ein zu
großer Aufenthalt seyn würde, so will ich hier die Frage
in diesem Verstande ganz aufgeben, und sie auf die
Seele in psychologischer Bedeutung, oder auf die
Seelennatur des Menschen anwenden.

Die menschliche Seele im psychologischen Ver-
stande genommen, ist das Jch, das wir mit unserm
Selbstgefühl empfinden und beobachten können. Es mag
aus einem einfachen immateriellen Wesen allein bestehen,
oder aus diesem, und einem innern körperlichen Werk-
zeug des Gefühls und des Denkens zusammengesetzt seyn,
oder, um kein psychologisches System auszuschließen,
es mag nichts als der innere organisirte Körper selbst
seyn. Genug es ist das fühlende, denkende und wol-
lende Eins, der innere Mensch selbst. Dieser hat seinen
Charakter, und seine Eigenheiten, worüber sich nach
Anleitung der Erfahrung philosophiren läßt, ohne jene
theoretische Spekulation über die Natur des Seelenwe-
sens zu berühren. Worinn bestehet dieser Charakter der
Menschheit? Worinn haben die Philosophen ihn gesetzet?
und worinn kann und muß man ihn setzen, wenn man
so weit auf den angebohrnen Grundcharakter zurückgehen
will, als der Faden der Beobachtung sicher hinleitet.

2.

Der Mensch ist unter allen empfindenden Mitge-
schöpfen auf der Erde das meist perfekrible Wesen,
dasjenige, was bey seiner Geburt am wenigsten von dem
ist, was es werden kann, und die größte Auswickelung
annimmt. Es ist das vielseitigste, das beugsamste

Wesen,
XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft

Die erſte Meinung iſt unwahrſcheinlich, und zwar
in einem hohen Grad, und die zwote nicht viel minder.
Aber ſie muͤſſen beide als unrichtig vorausgeſetzet werden,
ehe man in eine Unterſuchung uͤber den Charakter der
menſchlichen unkoͤrperlichen Seele ſich einlaſſen, und
mit feſten Schritten fortgehen kann. Da dieß ein zu
großer Aufenthalt ſeyn wuͤrde, ſo will ich hier die Frage
in dieſem Verſtande ganz aufgeben, und ſie auf die
Seele in pſychologiſcher Bedeutung, oder auf die
Seelennatur des Menſchen anwenden.

Die menſchliche Seele im pſychologiſchen Ver-
ſtande genommen, iſt das Jch, das wir mit unſerm
Selbſtgefuͤhl empfinden und beobachten koͤnnen. Es mag
aus einem einfachen immateriellen Weſen allein beſtehen,
oder aus dieſem, und einem innern koͤrperlichen Werk-
zeug des Gefuͤhls und des Denkens zuſammengeſetzt ſeyn,
oder, um kein pſychologiſches Syſtem auszuſchließen,
es mag nichts als der innere organiſirte Koͤrper ſelbſt
ſeyn. Genug es iſt das fuͤhlende, denkende und wol-
lende Eins, der innere Menſch ſelbſt. Dieſer hat ſeinen
Charakter, und ſeine Eigenheiten, woruͤber ſich nach
Anleitung der Erfahrung philoſophiren laͤßt, ohne jene
theoretiſche Spekulation uͤber die Natur des Seelenwe-
ſens zu beruͤhren. Worinn beſtehet dieſer Charakter der
Menſchheit? Worinn haben die Philoſophen ihn geſetzet?
und worinn kann und muß man ihn ſetzen, wenn man
ſo weit auf den angebohrnen Grundcharakter zuruͤckgehen
will, als der Faden der Beobachtung ſicher hinleitet.

2.

Der Menſch iſt unter allen empfindenden Mitge-
ſchoͤpfen auf der Erde das meiſt perfekrible Weſen,
dasjenige, was bey ſeiner Geburt am wenigſten von dem
iſt, was es werden kann, und die groͤßte Auswickelung
annimmt. Es iſt das vielſeitigſte, das beugſamſte

Weſen,
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[740/0800] XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft Die erſte Meinung iſt unwahrſcheinlich, und zwar in einem hohen Grad, und die zwote nicht viel minder. Aber ſie muͤſſen beide als unrichtig vorausgeſetzet werden, ehe man in eine Unterſuchung uͤber den Charakter der menſchlichen unkoͤrperlichen Seele ſich einlaſſen, und mit feſten Schritten fortgehen kann. Da dieß ein zu großer Aufenthalt ſeyn wuͤrde, ſo will ich hier die Frage in dieſem Verſtande ganz aufgeben, und ſie auf die Seele in pſychologiſcher Bedeutung, oder auf die Seelennatur des Menſchen anwenden. Die menſchliche Seele im pſychologiſchen Ver- ſtande genommen, iſt das Jch, das wir mit unſerm Selbſtgefuͤhl empfinden und beobachten koͤnnen. Es mag aus einem einfachen immateriellen Weſen allein beſtehen, oder aus dieſem, und einem innern koͤrperlichen Werk- zeug des Gefuͤhls und des Denkens zuſammengeſetzt ſeyn, oder, um kein pſychologiſches Syſtem auszuſchließen, es mag nichts als der innere organiſirte Koͤrper ſelbſt ſeyn. Genug es iſt das fuͤhlende, denkende und wol- lende Eins, der innere Menſch ſelbſt. Dieſer hat ſeinen Charakter, und ſeine Eigenheiten, woruͤber ſich nach Anleitung der Erfahrung philoſophiren laͤßt, ohne jene theoretiſche Spekulation uͤber die Natur des Seelenwe- ſens zu beruͤhren. Worinn beſtehet dieſer Charakter der Menſchheit? Worinn haben die Philoſophen ihn geſetzet? und worinn kann und muß man ihn ſetzen, wenn man ſo weit auf den angebohrnen Grundcharakter zuruͤckgehen will, als der Faden der Beobachtung ſicher hinleitet. 2. Der Menſch iſt unter allen empfindenden Mitge- ſchoͤpfen auf der Erde das meiſt perfekrible Weſen, dasjenige, was bey ſeiner Geburt am wenigſten von dem iſt, was es werden kann, und die groͤßte Auswickelung annimmt. Es iſt das vielſeitigſte, das beugſamſte Weſen,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 740. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/800>, abgerufen am 19.04.2024.