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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der Vorstellungen.
V.
Von den Gesichtsvorstellungen. Entstehungsart
derselben. Unterschied zwischen Empfindung
und Nachempfindung. Einbildung.

Eine gespannte Saite eines Jnstruments fähret eine
Weile fort, nachzuschwingen, wenn sie ein-
mal angeschlagen oder gedruckt worden ist, und der Per-
pendikel, welcher angestoßen worden ist, setzet noch seine
Schwingungen fort, ob er gleich nun nicht mehr von
der Hand, die ihn anstieß, berühret wird. Die Saite
nimmt in dem ersten Augenblick die Bewegung auf, und
wirket zugleich zurück auf den Körper, der sie anschläget,
und erschüttert. Dieser Empfang der Bewegung, und
die damit verbundene Rückwirkung mag eine Thätigkeit
seyn, oder nur etwas leidendes; so ist beydes schon nicht
mehr vorhanden, wenn die Saite zu zittern fortfähret.
Der stoßende Körper hat sich alsdenn entfernet, und die
Rückwirkung hat aufgehöret. Jhre Bewegung in dem
folgenden Augenblick ist die Fortsetzung derjenigen, wel-
che sie von der wirkenden Kraft empfangen hat. Jene
ist ein nachgebliebener Zustand in der Saite, in welchem
sie nichts mehr von außen aufnimmt, und auch nicht
mehr auf die äußere Kraft zurückwirket. Da ist also ein
anderer von dem erstern unterschiedener, und wesentlich
unterschiedener Zustand in ihr.

Diese Nachschwingungen hören in der Saite
allmählig auf, theils durch den Widerstand der äußern
Luft, theils der Hindernisse wegen, welche in der Stei-
figkeit der Saite selbst liegen. Endlich kommt die Sai-
te dem Ansehen nach gänzlich wiederum zu ihrer ersten
Ruhe. Alsdenn ist alle Spur des ersten Schlages ver-
loschen. So scheinet es wenigstens zu seyn. Es ist
aber nicht völlig also. Die Kunstverständigen sagen,
ein Jnstrument müsse vorher recht ausgespielet worden

seyn,
der Vorſtellungen.
V.
Von den Geſichtsvorſtellungen. Entſtehungsart
derſelben. Unterſchied zwiſchen Empfindung
und Nachempfindung. Einbildung.

Eine geſpannte Saite eines Jnſtruments faͤhret eine
Weile fort, nachzuſchwingen, wenn ſie ein-
mal angeſchlagen oder gedruckt worden iſt, und der Per-
pendikel, welcher angeſtoßen worden iſt, ſetzet noch ſeine
Schwingungen fort, ob er gleich nun nicht mehr von
der Hand, die ihn anſtieß, beruͤhret wird. Die Saite
nimmt in dem erſten Augenblick die Bewegung auf, und
wirket zugleich zuruͤck auf den Koͤrper, der ſie anſchlaͤget,
und erſchuͤttert. Dieſer Empfang der Bewegung, und
die damit verbundene Ruͤckwirkung mag eine Thaͤtigkeit
ſeyn, oder nur etwas leidendes; ſo iſt beydes ſchon nicht
mehr vorhanden, wenn die Saite zu zittern fortfaͤhret.
Der ſtoßende Koͤrper hat ſich alsdenn entfernet, und die
Ruͤckwirkung hat aufgehoͤret. Jhre Bewegung in dem
folgenden Augenblick iſt die Fortſetzung derjenigen, wel-
che ſie von der wirkenden Kraft empfangen hat. Jene
iſt ein nachgebliebener Zuſtand in der Saite, in welchem
ſie nichts mehr von außen aufnimmt, und auch nicht
mehr auf die aͤußere Kraft zuruͤckwirket. Da iſt alſo ein
anderer von dem erſtern unterſchiedener, und weſentlich
unterſchiedener Zuſtand in ihr.

Dieſe Nachſchwingungen hoͤren in der Saite
allmaͤhlig auf, theils durch den Widerſtand der aͤußern
Luft, theils der Hinderniſſe wegen, welche in der Stei-
figkeit der Saite ſelbſt liegen. Endlich kommt die Sai-
te dem Anſehen nach gaͤnzlich wiederum zu ihrer erſten
Ruhe. Alsdenn iſt alle Spur des erſten Schlages ver-
loſchen. So ſcheinet es wenigſtens zu ſeyn. Es iſt
aber nicht voͤllig alſo. Die Kunſtverſtaͤndigen ſagen,
ein Jnſtrument muͤſſe vorher recht ausgeſpielet worden

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[31/0091] der Vorſtellungen. V. Von den Geſichtsvorſtellungen. Entſtehungsart derſelben. Unterſchied zwiſchen Empfindung und Nachempfindung. Einbildung. Eine geſpannte Saite eines Jnſtruments faͤhret eine Weile fort, nachzuſchwingen, wenn ſie ein- mal angeſchlagen oder gedruckt worden iſt, und der Per- pendikel, welcher angeſtoßen worden iſt, ſetzet noch ſeine Schwingungen fort, ob er gleich nun nicht mehr von der Hand, die ihn anſtieß, beruͤhret wird. Die Saite nimmt in dem erſten Augenblick die Bewegung auf, und wirket zugleich zuruͤck auf den Koͤrper, der ſie anſchlaͤget, und erſchuͤttert. Dieſer Empfang der Bewegung, und die damit verbundene Ruͤckwirkung mag eine Thaͤtigkeit ſeyn, oder nur etwas leidendes; ſo iſt beydes ſchon nicht mehr vorhanden, wenn die Saite zu zittern fortfaͤhret. Der ſtoßende Koͤrper hat ſich alsdenn entfernet, und die Ruͤckwirkung hat aufgehoͤret. Jhre Bewegung in dem folgenden Augenblick iſt die Fortſetzung derjenigen, wel- che ſie von der wirkenden Kraft empfangen hat. Jene iſt ein nachgebliebener Zuſtand in der Saite, in welchem ſie nichts mehr von außen aufnimmt, und auch nicht mehr auf die aͤußere Kraft zuruͤckwirket. Da iſt alſo ein anderer von dem erſtern unterſchiedener, und weſentlich unterſchiedener Zuſtand in ihr. Dieſe Nachſchwingungen hoͤren in der Saite allmaͤhlig auf, theils durch den Widerſtand der aͤußern Luft, theils der Hinderniſſe wegen, welche in der Stei- figkeit der Saite ſelbſt liegen. Endlich kommt die Sai- te dem Anſehen nach gaͤnzlich wiederum zu ihrer erſten Ruhe. Alsdenn iſt alle Spur des erſten Schlages ver- loſchen. So ſcheinet es wenigſtens zu ſeyn. Es iſt aber nicht voͤllig alſo. Die Kunſtverſtaͤndigen ſagen, ein Jnſtrument muͤſſe vorher recht ausgeſpielet worden ſeyn,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/91>, abgerufen am 29.03.2024.