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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
das Gesicht verzerret und mit dem Munde geschäumet,
so oft er ein Gedicht von einiger Länge herdeklamiren
wollen. Nach den Proben zu urtheilen, die mir von
ihm bekannt geworden sind, war diese Geschicklichkeit
kaum so viel, als die Leichtigkeit, ein gereimtes Quod-
libet herzusagen, die jeder Mensch von einiger Lebhaf-
tigkeit des Geistes besitzet, oder sich doch erwecken
kann, wenn er sich üben will, und es ihm dann nicht
drauf ankommt, ob das, was er über |eine Sache sa-
get, Sinn oder Unsinn sey. Aber bey diesem Manne
war sie von einer ausnehmenden Größe, und gehörte
zu den ungewöhnlichen Wirkungen einer körperlichen
Ursache auf die Seele. Man hat mehrere Beyspiele,
daß Krankheiten und andre Zufälle die Seelenfähig-
keiten erhöhet und geschwächt haben; und von dem
berühmten Mabillon wird erzählt, er habe sich nach
einem Falle auf den Kopf trepaniren lassen müssen,
sey aber nach dieser Operation ein Genie geworden, da
er vorher ein stumpfer Kopf gewesen. Gleichwohl ist
zur Zeit nur wenige Hoffnung da, daß man zuver-
lässige Mittel gegen die Schwäche und Krankheiten
der Seelenorgane und zur Verbesserung besonderer
Fähigkeiten entdecken werde; außer denen nämlich,
die überhaupt dienlich sind, die Gesundheit und beson-
ders das Nervensystem zu erhalten. Denn in dieser
Hinsicht geben die vernünftigen Aerzte Anweisung, so
sehr auch die Kunst bey den Nervenkrankheiten sonst
noch zurück ist. Aber vor den Künsteleyen der Char-
latane, wodurch das Gedächtniß und der Verstand
gestärket werden soll, warnet man mit vielem Rechte.
Die psychologischen Mittel, nämlich eine zweckmäßig
eingerichtete Uebung der Vermögen, sind das einzige, das
wir in unserer Gewalt haben.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß, indem die Seele
sich entwickelt, auch eine entsprechende Erhöhung und

Ent-

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
das Geſicht verzerret und mit dem Munde geſchaͤumet,
ſo oft er ein Gedicht von einiger Laͤnge herdeklamiren
wollen. Nach den Proben zu urtheilen, die mir von
ihm bekannt geworden ſind, war dieſe Geſchicklichkeit
kaum ſo viel, als die Leichtigkeit, ein gereimtes Quod-
libet herzuſagen, die jeder Menſch von einiger Lebhaf-
tigkeit des Geiſtes beſitzet, oder ſich doch erwecken
kann, wenn er ſich uͤben will, und es ihm dann nicht
drauf ankommt, ob das, was er uͤber |eine Sache ſa-
get, Sinn oder Unſinn ſey. Aber bey dieſem Manne
war ſie von einer ausnehmenden Groͤße, und gehoͤrte
zu den ungewoͤhnlichen Wirkungen einer koͤrperlichen
Urſache auf die Seele. Man hat mehrere Beyſpiele,
daß Krankheiten und andre Zufaͤlle die Seelenfaͤhig-
keiten erhoͤhet und geſchwaͤcht haben; und von dem
beruͤhmten Mabillon wird erzaͤhlt, er habe ſich nach
einem Falle auf den Kopf trepaniren laſſen muͤſſen,
ſey aber nach dieſer Operation ein Genie geworden, da
er vorher ein ſtumpfer Kopf geweſen. Gleichwohl iſt
zur Zeit nur wenige Hoffnung da, daß man zuver-
laͤſſige Mittel gegen die Schwaͤche und Krankheiten
der Seelenorgane und zur Verbeſſerung beſonderer
Faͤhigkeiten entdecken werde; außer denen naͤmlich,
die uͤberhaupt dienlich ſind, die Geſundheit und beſon-
ders das Nervenſyſtem zu erhalten. Denn in dieſer
Hinſicht geben die vernuͤnftigen Aerzte Anweiſung, ſo
ſehr auch die Kunſt bey den Nervenkrankheiten ſonſt
noch zuruͤck iſt. Aber vor den Kuͤnſteleyen der Char-
latane, wodurch das Gedaͤchtniß und der Verſtand
geſtaͤrket werden ſoll, warnet man mit vielem Rechte.
Die pſychologiſchen Mittel, naͤmlich eine zweckmaͤßig
eingerichtete Uebung der Vermoͤgen, ſind das einzige, das
wir in unſerer Gewalt haben.

Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß, indem die Seele
ſich entwickelt, auch eine entſprechende Erhoͤhung und

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[430/0460] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt das Geſicht verzerret und mit dem Munde geſchaͤumet, ſo oft er ein Gedicht von einiger Laͤnge herdeklamiren wollen. Nach den Proben zu urtheilen, die mir von ihm bekannt geworden ſind, war dieſe Geſchicklichkeit kaum ſo viel, als die Leichtigkeit, ein gereimtes Quod- libet herzuſagen, die jeder Menſch von einiger Lebhaf- tigkeit des Geiſtes beſitzet, oder ſich doch erwecken kann, wenn er ſich uͤben will, und es ihm dann nicht drauf ankommt, ob das, was er uͤber |eine Sache ſa- get, Sinn oder Unſinn ſey. Aber bey dieſem Manne war ſie von einer ausnehmenden Groͤße, und gehoͤrte zu den ungewoͤhnlichen Wirkungen einer koͤrperlichen Urſache auf die Seele. Man hat mehrere Beyſpiele, daß Krankheiten und andre Zufaͤlle die Seelenfaͤhig- keiten erhoͤhet und geſchwaͤcht haben; und von dem beruͤhmten Mabillon wird erzaͤhlt, er habe ſich nach einem Falle auf den Kopf trepaniren laſſen muͤſſen, ſey aber nach dieſer Operation ein Genie geworden, da er vorher ein ſtumpfer Kopf geweſen. Gleichwohl iſt zur Zeit nur wenige Hoffnung da, daß man zuver- laͤſſige Mittel gegen die Schwaͤche und Krankheiten der Seelenorgane und zur Verbeſſerung beſonderer Faͤhigkeiten entdecken werde; außer denen naͤmlich, die uͤberhaupt dienlich ſind, die Geſundheit und beſon- ders das Nervenſyſtem zu erhalten. Denn in dieſer Hinſicht geben die vernuͤnftigen Aerzte Anweiſung, ſo ſehr auch die Kunſt bey den Nervenkrankheiten ſonſt noch zuruͤck iſt. Aber vor den Kuͤnſteleyen der Char- latane, wodurch das Gedaͤchtniß und der Verſtand geſtaͤrket werden ſoll, warnet man mit vielem Rechte. Die pſychologiſchen Mittel, naͤmlich eine zweckmaͤßig eingerichtete Uebung der Vermoͤgen, ſind das einzige, das wir in unſerer Gewalt haben. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß, indem die Seele ſich entwickelt, auch eine entſprechende Erhoͤhung und Ent-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/460>, abgerufen am 25.04.2024.