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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
ständen beziehen; und zwischen dem Anwachs der ab-
soluten Vermögen,
in so ferne sie Fähigkeiten sind,
auf gewisse Weise zu wirken, ihr Objekt sey welches es
wolle. Die Jdeenreihen sind eine Armatur des Ver-
mögens; sie geben Fertigkeiten in besondern Arten von
Kenntnissen und Handlungen. Jeder Gelehrte urtheilt
am fertigsten über Sachen, die zu seinem Fache gehö-
ren, ohne deswegen mehr Verstand zu besitzen; und
jeder Handwerker ist Meister in seiner Arbeit, obgleich
seine Kräfte, welche dadurch thätig sind, nichts vor
ebendenselbigen Kräften in andern Menschen voraus ha-
ben. Anfangs nimmt mit den Kenntnissen von den
Objekten das Vermögen, auf solche Objekte zu wirken,
und zugleich die absolute Größe der Kraft zu; es wäch-
set das Materielle mit der Form der Handlung. Aber,
wie es scheint, nicht in gleicher Maße. Denn die Kin-
desseele entwickelt in den ersten Jahren die Vermögen
stärker, als die Kenntnisse. Jn der Folge der Jahre
höret aber die Zunahme der Vermögen auf, wenn gleich
die Kenntnisse im Wachsen noch fortfahren. Die Ein-
sichten vermehren sich noch lange in dem Mannsalter,
ohne daß die Verstandesvermögen selbst an innerer ab-
soluten Stärke,
die sich zeigen müßte, wenn das
Vermögen auf ganz neue Objekte verwendet würde,
merklich größer werden sollten. Die Seelenkräfte haben
wie die Körperkräfte ihre natürlichen Perioden, und er-
reichen ihr Maximum, von dem an sie wiederum abneh-
men. Das Gesicht und das Gehör wird an sich nicht
stärker, wenn die Jugend zurückgeleget ist. Die
Phantasie und die Leidenschaften erreichen ihre größte
Höhe, ehe die Vernunft völlig zur Reife kommt. Und
alsdenn mögen die Thätigkeiten fortdauren; man mag
die Kraft üben, sich mit ihren mannichfaltigen Wirkun-
gen bekannter und sich solche geläufiger machen: so kön-
nen neue relative Fertigkeiten erhalten werden; aber die

innere

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſtaͤnden beziehen; und zwiſchen dem Anwachs der ab-
ſoluten Vermoͤgen,
in ſo ferne ſie Faͤhigkeiten ſind,
auf gewiſſe Weiſe zu wirken, ihr Objekt ſey welches es
wolle. Die Jdeenreihen ſind eine Armatur des Ver-
moͤgens; ſie geben Fertigkeiten in beſondern Arten von
Kenntniſſen und Handlungen. Jeder Gelehrte urtheilt
am fertigſten uͤber Sachen, die zu ſeinem Fache gehoͤ-
ren, ohne deswegen mehr Verſtand zu beſitzen; und
jeder Handwerker iſt Meiſter in ſeiner Arbeit, obgleich
ſeine Kraͤfte, welche dadurch thaͤtig ſind, nichts vor
ebendenſelbigen Kraͤften in andern Menſchen voraus ha-
ben. Anfangs nimmt mit den Kenntniſſen von den
Objekten das Vermoͤgen, auf ſolche Objekte zu wirken,
und zugleich die abſolute Groͤße der Kraft zu; es waͤch-
ſet das Materielle mit der Form der Handlung. Aber,
wie es ſcheint, nicht in gleicher Maße. Denn die Kin-
desſeele entwickelt in den erſten Jahren die Vermoͤgen
ſtaͤrker, als die Kenntniſſe. Jn der Folge der Jahre
hoͤret aber die Zunahme der Vermoͤgen auf, wenn gleich
die Kenntniſſe im Wachſen noch fortfahren. Die Ein-
ſichten vermehren ſich noch lange in dem Mannsalter,
ohne daß die Verſtandesvermoͤgen ſelbſt an innerer ab-
ſoluten Staͤrke,
die ſich zeigen muͤßte, wenn das
Vermoͤgen auf ganz neue Objekte verwendet wuͤrde,
merklich groͤßer werden ſollten. Die Seelenkraͤfte haben
wie die Koͤrperkraͤfte ihre natuͤrlichen Perioden, und er-
reichen ihr Maximum, von dem an ſie wiederum abneh-
men. Das Geſicht und das Gehoͤr wird an ſich nicht
ſtaͤrker, wenn die Jugend zuruͤckgeleget iſt. Die
Phantaſie und die Leidenſchaften erreichen ihre groͤßte
Hoͤhe, ehe die Vernunft voͤllig zur Reife kommt. Und
alsdenn moͤgen die Thaͤtigkeiten fortdauren; man mag
die Kraft uͤben, ſich mit ihren mannichfaltigen Wirkun-
gen bekannter und ſich ſolche gelaͤufiger machen: ſo koͤn-
nen neue relative Fertigkeiten erhalten werden; aber die

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[432/0462] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt ſtaͤnden beziehen; und zwiſchen dem Anwachs der ab- ſoluten Vermoͤgen, in ſo ferne ſie Faͤhigkeiten ſind, auf gewiſſe Weiſe zu wirken, ihr Objekt ſey welches es wolle. Die Jdeenreihen ſind eine Armatur des Ver- moͤgens; ſie geben Fertigkeiten in beſondern Arten von Kenntniſſen und Handlungen. Jeder Gelehrte urtheilt am fertigſten uͤber Sachen, die zu ſeinem Fache gehoͤ- ren, ohne deswegen mehr Verſtand zu beſitzen; und jeder Handwerker iſt Meiſter in ſeiner Arbeit, obgleich ſeine Kraͤfte, welche dadurch thaͤtig ſind, nichts vor ebendenſelbigen Kraͤften in andern Menſchen voraus ha- ben. Anfangs nimmt mit den Kenntniſſen von den Objekten das Vermoͤgen, auf ſolche Objekte zu wirken, und zugleich die abſolute Groͤße der Kraft zu; es waͤch- ſet das Materielle mit der Form der Handlung. Aber, wie es ſcheint, nicht in gleicher Maße. Denn die Kin- desſeele entwickelt in den erſten Jahren die Vermoͤgen ſtaͤrker, als die Kenntniſſe. Jn der Folge der Jahre hoͤret aber die Zunahme der Vermoͤgen auf, wenn gleich die Kenntniſſe im Wachſen noch fortfahren. Die Ein- ſichten vermehren ſich noch lange in dem Mannsalter, ohne daß die Verſtandesvermoͤgen ſelbſt an innerer ab- ſoluten Staͤrke, die ſich zeigen muͤßte, wenn das Vermoͤgen auf ganz neue Objekte verwendet wuͤrde, merklich groͤßer werden ſollten. Die Seelenkraͤfte haben wie die Koͤrperkraͤfte ihre natuͤrlichen Perioden, und er- reichen ihr Maximum, von dem an ſie wiederum abneh- men. Das Geſicht und das Gehoͤr wird an ſich nicht ſtaͤrker, wenn die Jugend zuruͤckgeleget iſt. Die Phantaſie und die Leidenſchaften erreichen ihre groͤßte Hoͤhe, ehe die Vernunft voͤllig zur Reife kommt. Und alsdenn moͤgen die Thaͤtigkeiten fortdauren; man mag die Kraft uͤben, ſich mit ihren mannichfaltigen Wirkun- gen bekannter und ſich ſolche gelaͤufiger machen: ſo koͤn- nen neue relative Fertigkeiten erhalten werden; aber die innere

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/462>, abgerufen am 23.04.2024.