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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
pothese von den Keimen und deren Entwickelung sey all-
zuschwer anzubringen. Was Hr. Bonnet und andere
gesehen haben, nehme ich ohne die geringste Bedenklich-
keit für richtige Beobachtungen an; aber was er in die-
sen Beobachtungen mit dem Verstande gelesen hat, finde
ich nicht darinn. Es ist vielleicht jetzo noch nicht mög-
lich, alle verschiedene Erfahrungen auf Einen Grundsatz
zu bringen. Wer weiß, wie viel mehrere und noch mehr
von einander abweichende künftig noch entdeckt werden
mögen?

Das also, was bey dem Evolutionssystem vor-
kommt, wenn man es scharf zu prüfen sich vornimmt,
ist, daß man diese beiden Sätze wohl unterscheide:
Es entstehen keine neue Formen, sondern die For-
men, welche in dem Keim sind, werden entwickelt;

und der zweete Satz: Der Keim bestimmet die Bil-
dung des organischen Körpers völlig, und bestim-
met sie allein.
Hr. Bonnet hat nicht immer beide
genau unterschieden, wie oben (II. 1.) erinnert worden
ist. Der Keim des Pferdes in der Stute bestimmet
doch nicht allein die Bildung des Maulesels, auch nach
seiner Jdee, weil die in jenem enthaltenen Formen zum
Pferde sich in einem andern Verhältnisse auswickeln,
wenn ein Maulesel erzeuget wird, obgleich alle Formen
des Maulesels in dem Pferdekeim, in der Stute, nach
dieser Hypothese, enthalten sind. Dasselbige findet statt
bey allen Bastarten; und ohne Zweifel ist dieß auch
die Ursache mancher Mißgeburten.

2.

Es sollen nach dieser Hypothese keine neue organi-
sche Formen entstehen. Allein wenn nun neue Ma-
terie hinzukommt, die das Ganze nicht bloß am Um-
fange sondern auch an Masse vergrößert, so ist es doch
nothwendig, daß auch Verbindungen entstehen. Wie,

wann

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
potheſe von den Keimen und deren Entwickelung ſey all-
zuſchwer anzubringen. Was Hr. Bonnet und andere
geſehen haben, nehme ich ohne die geringſte Bedenklich-
keit fuͤr richtige Beobachtungen an; aber was er in die-
ſen Beobachtungen mit dem Verſtande geleſen hat, finde
ich nicht darinn. Es iſt vielleicht jetzo noch nicht moͤg-
lich, alle verſchiedene Erfahrungen auf Einen Grundſatz
zu bringen. Wer weiß, wie viel mehrere und noch mehr
von einander abweichende kuͤnftig noch entdeckt werden
moͤgen?

Das alſo, was bey dem Evolutionsſyſtem vor-
kommt, wenn man es ſcharf zu pruͤfen ſich vornimmt,
iſt, daß man dieſe beiden Saͤtze wohl unterſcheide:
Es entſtehen keine neue Formen, ſondern die For-
men, welche in dem Keim ſind, werden entwickelt;

und der zweete Satz: Der Keim beſtimmet die Bil-
dung des organiſchen Koͤrpers voͤllig, und beſtim-
met ſie allein.
Hr. Bonnet hat nicht immer beide
genau unterſchieden, wie oben (II. 1.) erinnert worden
iſt. Der Keim des Pferdes in der Stute beſtimmet
doch nicht allein die Bildung des Mauleſels, auch nach
ſeiner Jdee, weil die in jenem enthaltenen Formen zum
Pferde ſich in einem andern Verhaͤltniſſe auswickeln,
wenn ein Mauleſel erzeuget wird, obgleich alle Formen
des Mauleſels in dem Pferdekeim, in der Stute, nach
dieſer Hypotheſe, enthalten ſind. Daſſelbige findet ſtatt
bey allen Baſtarten; und ohne Zweifel iſt dieß auch
die Urſache mancher Mißgeburten.

2.

Es ſollen nach dieſer Hypotheſe keine neue organi-
ſche Formen entſtehen. Allein wenn nun neue Ma-
terie hinzukommt, die das Ganze nicht bloß am Um-
fange ſondern auch an Maſſe vergroͤßert, ſo iſt es doch
nothwendig, daß auch Verbindungen entſtehen. Wie,

wann
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[502/0532] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt potheſe von den Keimen und deren Entwickelung ſey all- zuſchwer anzubringen. Was Hr. Bonnet und andere geſehen haben, nehme ich ohne die geringſte Bedenklich- keit fuͤr richtige Beobachtungen an; aber was er in die- ſen Beobachtungen mit dem Verſtande geleſen hat, finde ich nicht darinn. Es iſt vielleicht jetzo noch nicht moͤg- lich, alle verſchiedene Erfahrungen auf Einen Grundſatz zu bringen. Wer weiß, wie viel mehrere und noch mehr von einander abweichende kuͤnftig noch entdeckt werden moͤgen? Das alſo, was bey dem Evolutionsſyſtem vor- kommt, wenn man es ſcharf zu pruͤfen ſich vornimmt, iſt, daß man dieſe beiden Saͤtze wohl unterſcheide: Es entſtehen keine neue Formen, ſondern die For- men, welche in dem Keim ſind, werden entwickelt; und der zweete Satz: Der Keim beſtimmet die Bil- dung des organiſchen Koͤrpers voͤllig, und beſtim- met ſie allein. Hr. Bonnet hat nicht immer beide genau unterſchieden, wie oben (II. 1.) erinnert worden iſt. Der Keim des Pferdes in der Stute beſtimmet doch nicht allein die Bildung des Mauleſels, auch nach ſeiner Jdee, weil die in jenem enthaltenen Formen zum Pferde ſich in einem andern Verhaͤltniſſe auswickeln, wenn ein Mauleſel erzeuget wird, obgleich alle Formen des Mauleſels in dem Pferdekeim, in der Stute, nach dieſer Hypotheſe, enthalten ſind. Daſſelbige findet ſtatt bey allen Baſtarten; und ohne Zweifel iſt dieß auch die Urſache mancher Mißgeburten. 2. Es ſollen nach dieſer Hypotheſe keine neue organi- ſche Formen entſtehen. Allein wenn nun neue Ma- terie hinzukommt, die das Ganze nicht bloß am Um- fange ſondern auch an Maſſe vergroͤßert, ſo iſt es doch nothwendig, daß auch Verbindungen entſtehen. Wie, wann

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 502. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/532>, abgerufen am 25.04.2024.