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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
vermissen, verstecken könne, der sich überdieß in man-
chen Fällen gezeiget hat, nachdem man ihn mit mehre-
rer Aufmerksamkeit aufgesucht hatte. Es giebt keinen
psychologischen Erfahrungssatz, der eine stärkere Jn-
duktion für sich habe, als dieser. So lange man nur
bey der Erfahrung allein stehen bleibt, und die Speku-
lationen aus Begriffen bey Seite setzet, wird man kein
Bedenken haben, ihn für einen allgemeinen Satz zu er-
kennen. Es ist unnöthig, das metaphysische Princip
vom zureichenden Grunde
hieher zu ziehen. Jch
wenigstens würde mich darum nicht einmal bekümmern.
Genug es ist eine Uebereinstimmung aller Empfindun-
gen da, die für die Allgemeinheit des Satzes streitet,
und wenigstens nicht erlaubet hier Ausnahmen anzu-
nehmen, als bis etwan durch die strengsten und bündig-
sten Beweise dargethan wird, daß es dergleichen geben
müsse, wenn man nicht Widersprüche verdauen wolle.
Durch diese letztere Einschränkung bezeuge ich den Jn-
deterministen meine ganze Nachgiebigkeit, womit zum
wenigsten diejenigen von ihnen zufrieden seyn werden,
die es selbst eingestehen, daß die vollkommenste Gleich-
heit aller individuellen Umstände auf beiden entgegen-
gesetzten Seiten (statum perfecti aequilibrii) aus der
Erfahrung nicht zu beweisen sey, ob man gleich die
Wirklichkeit solcher Fälle aus Gründen erkenne, weil
sonst keine wahre Freyheit im Menschen vorhanden
seyn könne. Einige von ihnen wissen es so gut, daß
dergleichen vollkommen gleiche Bestimmtheit der Hand-
lung und ihres Gegentheils selten oder gar nicht beob-
achtet werde, daß sie daher behauptet haben, es sey
genug, wenn man ihnen eingestehe, der Mensch müsse
doch dann und wann einmal zum mindesten in seinem
Leben in diesem vollkommenen Gleichgewichte sich befun-
den haben. Wenn ich hiezu nun noch die Erklärung
setze, daß ich jede Theorie hier auf ihrem Werth und

Unwerth

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
vermiſſen, verſtecken koͤnne, der ſich uͤberdieß in man-
chen Faͤllen gezeiget hat, nachdem man ihn mit mehre-
rer Aufmerkſamkeit aufgeſucht hatte. Es giebt keinen
pſychologiſchen Erfahrungsſatz, der eine ſtaͤrkere Jn-
duktion fuͤr ſich habe, als dieſer. So lange man nur
bey der Erfahrung allein ſtehen bleibt, und die Speku-
lationen aus Begriffen bey Seite ſetzet, wird man kein
Bedenken haben, ihn fuͤr einen allgemeinen Satz zu er-
kennen. Es iſt unnoͤthig, das metaphyſiſche Princip
vom zureichenden Grunde
hieher zu ziehen. Jch
wenigſtens wuͤrde mich darum nicht einmal bekuͤmmern.
Genug es iſt eine Uebereinſtimmung aller Empfindun-
gen da, die fuͤr die Allgemeinheit des Satzes ſtreitet,
und wenigſtens nicht erlaubet hier Ausnahmen anzu-
nehmen, als bis etwan durch die ſtrengſten und buͤndig-
ſten Beweiſe dargethan wird, daß es dergleichen geben
muͤſſe, wenn man nicht Widerſpruͤche verdauen wolle.
Durch dieſe letztere Einſchraͤnkung bezeuge ich den Jn-
determiniſten meine ganze Nachgiebigkeit, womit zum
wenigſten diejenigen von ihnen zufrieden ſeyn werden,
die es ſelbſt eingeſtehen, daß die vollkommenſte Gleich-
heit aller individuellen Umſtaͤnde auf beiden entgegen-
geſetzten Seiten (ſtatum perfecti aequilibrii) aus der
Erfahrung nicht zu beweiſen ſey, ob man gleich die
Wirklichkeit ſolcher Faͤlle aus Gruͤnden erkenne, weil
ſonſt keine wahre Freyheit im Menſchen vorhanden
ſeyn koͤnne. Einige von ihnen wiſſen es ſo gut, daß
dergleichen vollkommen gleiche Beſtimmtheit der Hand-
lung und ihres Gegentheils ſelten oder gar nicht beob-
achtet werde, daß ſie daher behauptet haben, es ſey
genug, wenn man ihnen eingeſtehe, der Menſch muͤſſe
doch dann und wann einmal zum mindeſten in ſeinem
Leben in dieſem vollkommenen Gleichgewichte ſich befun-
den haben. Wenn ich hiezu nun noch die Erklaͤrung
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Unwerth
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[42/0072] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit vermiſſen, verſtecken koͤnne, der ſich uͤberdieß in man- chen Faͤllen gezeiget hat, nachdem man ihn mit mehre- rer Aufmerkſamkeit aufgeſucht hatte. Es giebt keinen pſychologiſchen Erfahrungsſatz, der eine ſtaͤrkere Jn- duktion fuͤr ſich habe, als dieſer. So lange man nur bey der Erfahrung allein ſtehen bleibt, und die Speku- lationen aus Begriffen bey Seite ſetzet, wird man kein Bedenken haben, ihn fuͤr einen allgemeinen Satz zu er- kennen. Es iſt unnoͤthig, das metaphyſiſche Princip vom zureichenden Grunde hieher zu ziehen. Jch wenigſtens wuͤrde mich darum nicht einmal bekuͤmmern. Genug es iſt eine Uebereinſtimmung aller Empfindun- gen da, die fuͤr die Allgemeinheit des Satzes ſtreitet, und wenigſtens nicht erlaubet hier Ausnahmen anzu- nehmen, als bis etwan durch die ſtrengſten und buͤndig- ſten Beweiſe dargethan wird, daß es dergleichen geben muͤſſe, wenn man nicht Widerſpruͤche verdauen wolle. Durch dieſe letztere Einſchraͤnkung bezeuge ich den Jn- determiniſten meine ganze Nachgiebigkeit, womit zum wenigſten diejenigen von ihnen zufrieden ſeyn werden, die es ſelbſt eingeſtehen, daß die vollkommenſte Gleich- heit aller individuellen Umſtaͤnde auf beiden entgegen- geſetzten Seiten (ſtatum perfecti aequilibrii) aus der Erfahrung nicht zu beweiſen ſey, ob man gleich die Wirklichkeit ſolcher Faͤlle aus Gruͤnden erkenne, weil ſonſt keine wahre Freyheit im Menſchen vorhanden ſeyn koͤnne. Einige von ihnen wiſſen es ſo gut, daß dergleichen vollkommen gleiche Beſtimmtheit der Hand- lung und ihres Gegentheils ſelten oder gar nicht beob- achtet werde, daß ſie daher behauptet haben, es ſey genug, wenn man ihnen eingeſtehe, der Menſch muͤſſe doch dann und wann einmal zum mindeſten in ſeinem Leben in dieſem vollkommenen Gleichgewichte ſich befun- den haben. Wenn ich hiezu nun noch die Erklaͤrung ſetze, daß ich jede Theorie hier auf ihrem Werth und Unwerth

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/72>, abgerufen am 25.04.2024.