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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
reichhaltigen Spur vereinigten. Es ist hier nämlich
die Rede von solchen Fertigkeiten, die nach und nach
gewachsen sind. Jn der That giebt es keine andern in
der Seele. Selbst das Athemholen und das Saugen
ist, nach einer oben schon angeführten Bemerkung des
Hrn. Verdier, *) nach und nach, obgleich vor der Ge-
burt, erlernet. Und was die Fertigkeiten in den will-
kürlichen Bewegungen der Glieder betrifft, so ist es jetzo
durch die Beobachtung an den Kindern außer Zweifel
gesetzt, daß sie allmälig erlanget werden. Jndessen
wenn jemand eine oder die andere für so natürlich anse-
hen wollte, daß sie von den [e]rworbenen abgesondert wer-
den müßte, so würde solche auch in der gegenwärtigen
Betrachtung bey Seite zu setzen seyn.

Jedwede
wahr ist, was er von der frühzeitigen Entwickelung der
Kinder bezeuget, so kann es doch keine ganz ungegrün-
dete Vermuthung seyn, daß Klima, Naturanlage und
Nahrung, nebst andern nicht moralischen Ursachen, zu
der vorzeitigen Wiederabnahme des Verstandes beytra-
gen. Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß die zeitige
Entwickelung des Nervensystems und der Seele von
physischen Ursachen abhange. Sollte diesen nicht etwas
ähnliches bey der frühern Abnahme zuzuschreiben seyn?
Der Trieb der Säfte, der anfangs stärker zum Gehirn
gieng, als bey andern Menschen, kann nachher weni-
ger dahin gehen. Dann wird Thätigkeit und Munter-
keit am Geiste abnehmen. Wir haben auch unter uns
Beyspiele von frühzeitigen Köpfen, die mit den Jahren
wieder stumpf werden, obgleich bey manchen, wozu
Grotius gehörte, dieß nicht erfolget. Es ist von den
natürlich frühzeitigen die Rede. Wo dieß nicht ein
Werk der Natur ist, sondern aus einer einseitigen über-
triebenen Entwickelung des Verstandes in der Erziehung
herrühret, da wird man öfters des Hrn. Tissot Aus-
spruch wahr finden, daß Kinder, die im zwölften Jahr
Männer sind, in dem vier und zwanzigsten wieder Kin-
der werden.
*) Sur la persectibilite de l'homme. Recueil second.

und Entwickelung des Menſchen.
reichhaltigen Spur vereinigten. Es iſt hier naͤmlich
die Rede von ſolchen Fertigkeiten, die nach und nach
gewachſen ſind. Jn der That giebt es keine andern in
der Seele. Selbſt das Athemholen und das Saugen
iſt, nach einer oben ſchon angefuͤhrten Bemerkung des
Hrn. Verdier, *) nach und nach, obgleich vor der Ge-
burt, erlernet. Und was die Fertigkeiten in den will-
kuͤrlichen Bewegungen der Glieder betrifft, ſo iſt es jetzo
durch die Beobachtung an den Kindern außer Zweifel
geſetzt, daß ſie allmaͤlig erlanget werden. Jndeſſen
wenn jemand eine oder die andere fuͤr ſo natuͤrlich anſe-
hen wollte, daß ſie von den [e]rworbenen abgeſondert wer-
den muͤßte, ſo wuͤrde ſolche auch in der gegenwaͤrtigen
Betrachtung bey Seite zu ſetzen ſeyn.

Jedwede
wahr iſt, was er von der fruͤhzeitigen Entwickelung der
Kinder bezeuget, ſo kann es doch keine ganz ungegruͤn-
dete Vermuthung ſeyn, daß Klima, Naturanlage und
Nahrung, nebſt andern nicht moraliſchen Urſachen, zu
der vorzeitigen Wiederabnahme des Verſtandes beytra-
gen. Es iſt doch ſehr wahrſcheinlich, daß die zeitige
Entwickelung des Nervenſyſtems und der Seele von
phyſiſchen Urſachen abhange. Sollte dieſen nicht etwas
aͤhnliches bey der fruͤhern Abnahme zuzuſchreiben ſeyn?
Der Trieb der Saͤfte, der anfangs ſtaͤrker zum Gehirn
gieng, als bey andern Menſchen, kann nachher weni-
ger dahin gehen. Dann wird Thaͤtigkeit und Munter-
keit am Geiſte abnehmen. Wir haben auch unter uns
Beyſpiele von fruͤhzeitigen Koͤpfen, die mit den Jahren
wieder ſtumpf werden, obgleich bey manchen, wozu
Grotius gehoͤrte, dieß nicht erfolget. Es iſt von den
natuͤrlich fruͤhzeitigen die Rede. Wo dieß nicht ein
Werk der Natur iſt, ſondern aus einer einſeitigen uͤber-
triebenen Entwickelung des Verſtandes in der Erziehung
herruͤhret, da wird man oͤfters des Hrn. Tiſſot Aus-
ſpruch wahr finden, daß Kinder, die im zwoͤlften Jahr
Maͤnner ſind, in dem vier und zwanzigſten wieder Kin-
der werden.
*) Sur la perſectibilité de l'homme. Recueil ſecond.
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[715/0745] und Entwickelung des Menſchen. reichhaltigen Spur vereinigten. Es iſt hier naͤmlich die Rede von ſolchen Fertigkeiten, die nach und nach gewachſen ſind. Jn der That giebt es keine andern in der Seele. Selbſt das Athemholen und das Saugen iſt, nach einer oben ſchon angefuͤhrten Bemerkung des Hrn. Verdier, *) nach und nach, obgleich vor der Ge- burt, erlernet. Und was die Fertigkeiten in den will- kuͤrlichen Bewegungen der Glieder betrifft, ſo iſt es jetzo durch die Beobachtung an den Kindern außer Zweifel geſetzt, daß ſie allmaͤlig erlanget werden. Jndeſſen wenn jemand eine oder die andere fuͤr ſo natuͤrlich anſe- hen wollte, daß ſie von den erworbenen abgeſondert wer- den muͤßte, ſo wuͤrde ſolche auch in der gegenwaͤrtigen Betrachtung bey Seite zu ſetzen ſeyn. Jedwede *) *) Sur la perſectibilité de l'homme. Recueil ſecond. *) wahr iſt, was er von der fruͤhzeitigen Entwickelung der Kinder bezeuget, ſo kann es doch keine ganz ungegruͤn- dete Vermuthung ſeyn, daß Klima, Naturanlage und Nahrung, nebſt andern nicht moraliſchen Urſachen, zu der vorzeitigen Wiederabnahme des Verſtandes beytra- gen. Es iſt doch ſehr wahrſcheinlich, daß die zeitige Entwickelung des Nervenſyſtems und der Seele von phyſiſchen Urſachen abhange. Sollte dieſen nicht etwas aͤhnliches bey der fruͤhern Abnahme zuzuſchreiben ſeyn? Der Trieb der Saͤfte, der anfangs ſtaͤrker zum Gehirn gieng, als bey andern Menſchen, kann nachher weni- ger dahin gehen. Dann wird Thaͤtigkeit und Munter- keit am Geiſte abnehmen. Wir haben auch unter uns Beyſpiele von fruͤhzeitigen Koͤpfen, die mit den Jahren wieder ſtumpf werden, obgleich bey manchen, wozu Grotius gehoͤrte, dieß nicht erfolget. Es iſt von den natuͤrlich fruͤhzeitigen die Rede. Wo dieß nicht ein Werk der Natur iſt, ſondern aus einer einſeitigen uͤber- triebenen Entwickelung des Verſtandes in der Erziehung herruͤhret, da wird man oͤfters des Hrn. Tiſſot Aus- ſpruch wahr finden, daß Kinder, die im zwoͤlften Jahr Maͤnner ſind, in dem vier und zwanzigſten wieder Kin- der werden.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 715. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/745>, abgerufen am 28.03.2024.