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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
wahren, daß sie erwecket werden können. Empfindun-
gen sind da, und die vorstellende und denkende Kraft
macht sie zu Vorstellungen und Gedanken. Aber diese
Vorstellungen und Gedanken fallen auf die Seele, wie
der Same auf einen Felsen, wo er sich nicht einwur-
zeln kann. Denn weil solche neue Jdeen mit den übri-
gen vorhandenen nicht verbunden werden, so fallen die
Mittel weg sie zu erwecken; und wenn man sie wieder
zurückbringt, so fehlt das vornehmste Merkzeichen, wor-
an die Seele sich erinnern könne, sie gehabt zu haben.
Man kann aber deswegen nicht schließen, wenn man
der Analogie der Natur folgen will, daß diese letzthin-
zugekommenen Jdeen gar keine Spur zurücklassen.
Wenn ein Stein auf einen Stein fällt, so bleibt ein
Merkzeichen davon zurück, obgleich jener in diesen nicht
eindringt. Der Mensch kann also noch im höchsten Al-
ter den Vorrath seiner ruhenden Vorstellungen vermeh-
ren, wenn gleich nicht die Summe derer, die erweck-
bar sind. Und hiemit stimmt die Erfahrung überein.
Die Alten befestigen sich noch immerfort in gewissen
Meynungen und Denkungsarten, und Gewohnheiten,
wie die alten Bäume fortfahren jährlich Ringe anzuse-
tzen, wenn gleich dieser Zuwachs kaum mehr kenntlich
und unterscheidbar ist.

4.

Es läßt sich hieraus erklären, warum die Alten sich
besser der vergangenen Zeiten ihrer Jugend erinnern,
je leichter sie vergessen, was ihnen gegenwärtig ist. Die
Jdeen aus der Jugend haben ihre innere Reproducibi-
lität behalten, welche den neuen, die im Alter hinzu-
kommen, fehlt. Weil nun die letztern die Seele nicht
mehr so stark beschäfftigen, daß jene dadurch verdunkelt
würden, so hat sie Anlaß in ihre innere Vorrathskam-
mer zurückzugehen, und sich mit den alten zu thun zu
machen. Diese Erfahrung kann hier wiederum zum

Beweise

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
wahren, daß ſie erwecket werden koͤnnen. Empfindun-
gen ſind da, und die vorſtellende und denkende Kraft
macht ſie zu Vorſtellungen und Gedanken. Aber dieſe
Vorſtellungen und Gedanken fallen auf die Seele, wie
der Same auf einen Felſen, wo er ſich nicht einwur-
zeln kann. Denn weil ſolche neue Jdeen mit den uͤbri-
gen vorhandenen nicht verbunden werden, ſo fallen die
Mittel weg ſie zu erwecken; und wenn man ſie wieder
zuruͤckbringt, ſo fehlt das vornehmſte Merkzeichen, wor-
an die Seele ſich erinnern koͤnne, ſie gehabt zu haben.
Man kann aber deswegen nicht ſchließen, wenn man
der Analogie der Natur folgen will, daß dieſe letzthin-
zugekommenen Jdeen gar keine Spur zuruͤcklaſſen.
Wenn ein Stein auf einen Stein faͤllt, ſo bleibt ein
Merkzeichen davon zuruͤck, obgleich jener in dieſen nicht
eindringt. Der Menſch kann alſo noch im hoͤchſten Al-
ter den Vorrath ſeiner ruhenden Vorſtellungen vermeh-
ren, wenn gleich nicht die Summe derer, die erweck-
bar ſind. Und hiemit ſtimmt die Erfahrung uͤberein.
Die Alten befeſtigen ſich noch immerfort in gewiſſen
Meynungen und Denkungsarten, und Gewohnheiten,
wie die alten Baͤume fortfahren jaͤhrlich Ringe anzuſe-
tzen, wenn gleich dieſer Zuwachs kaum mehr kenntlich
und unterſcheidbar iſt.

4.

Es laͤßt ſich hieraus erklaͤren, warum die Alten ſich
beſſer der vergangenen Zeiten ihrer Jugend erinnern,
je leichter ſie vergeſſen, was ihnen gegenwaͤrtig iſt. Die
Jdeen aus der Jugend haben ihre innere Reproducibi-
litaͤt behalten, welche den neuen, die im Alter hinzu-
kommen, fehlt. Weil nun die letztern die Seele nicht
mehr ſo ſtark beſchaͤfftigen, daß jene dadurch verdunkelt
wuͤrden, ſo hat ſie Anlaß in ihre innere Vorrathskam-
mer zuruͤckzugehen, und ſich mit den alten zu thun zu
machen. Dieſe Erfahrung kann hier wiederum zum

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[750/0780] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt wahren, daß ſie erwecket werden koͤnnen. Empfindun- gen ſind da, und die vorſtellende und denkende Kraft macht ſie zu Vorſtellungen und Gedanken. Aber dieſe Vorſtellungen und Gedanken fallen auf die Seele, wie der Same auf einen Felſen, wo er ſich nicht einwur- zeln kann. Denn weil ſolche neue Jdeen mit den uͤbri- gen vorhandenen nicht verbunden werden, ſo fallen die Mittel weg ſie zu erwecken; und wenn man ſie wieder zuruͤckbringt, ſo fehlt das vornehmſte Merkzeichen, wor- an die Seele ſich erinnern koͤnne, ſie gehabt zu haben. Man kann aber deswegen nicht ſchließen, wenn man der Analogie der Natur folgen will, daß dieſe letzthin- zugekommenen Jdeen gar keine Spur zuruͤcklaſſen. Wenn ein Stein auf einen Stein faͤllt, ſo bleibt ein Merkzeichen davon zuruͤck, obgleich jener in dieſen nicht eindringt. Der Menſch kann alſo noch im hoͤchſten Al- ter den Vorrath ſeiner ruhenden Vorſtellungen vermeh- ren, wenn gleich nicht die Summe derer, die erweck- bar ſind. Und hiemit ſtimmt die Erfahrung uͤberein. Die Alten befeſtigen ſich noch immerfort in gewiſſen Meynungen und Denkungsarten, und Gewohnheiten, wie die alten Baͤume fortfahren jaͤhrlich Ringe anzuſe- tzen, wenn gleich dieſer Zuwachs kaum mehr kenntlich und unterſcheidbar iſt. 4. Es laͤßt ſich hieraus erklaͤren, warum die Alten ſich beſſer der vergangenen Zeiten ihrer Jugend erinnern, je leichter ſie vergeſſen, was ihnen gegenwaͤrtig iſt. Die Jdeen aus der Jugend haben ihre innere Reproducibi- litaͤt behalten, welche den neuen, die im Alter hinzu- kommen, fehlt. Weil nun die letztern die Seele nicht mehr ſo ſtark beſchaͤfftigen, daß jene dadurch verdunkelt wuͤrden, ſo hat ſie Anlaß in ihre innere Vorrathskam- mer zuruͤckzugehen, und ſich mit den alten zu thun zu machen. Dieſe Erfahrung kann hier wiederum zum Beweiſe

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 750. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/780>, abgerufen am 18.04.2024.