Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
wodurch die Menschheit ausgebildet ward, zusammen-
nimmt: so kann sein großer Vorzug vor dem jetzigen,
das in Sklaverey und Unwissenheit versenkt ist, eben so
wenig zweifelhaft seyn, als das Uebergewicht am äußern
Wohlstande, an Bequemlichkeit und an Vergnügen der
damaligen Zeiten und der jetzigen es ist.

Läßt sich nicht etwas ähnliches in Hinsicht des gan-
zen
Geschlechts behaupten? Die Geschichte zeiget uns
dasselbige in den ältesten Zeiten in einem Zustande, den
wir, mit dem gegenwärtigen verglichen, die Kindheit
der Welt nennen können. Man hat darüber gestritten,
ob die Bevölkerung vor zwey tausend Jahren größer ge-
wesen sey, als jetzo; und die Resultate derer, die mit
vieler Gelehrsamkeit hierüber Berechnungen gemacht,
sind verschiedentlich ausgefallen. Aber wenn wir noch
weiter zurückgehen, so treffen wir doch nach Aussage der
glaubwürdigsten Geschichte auf Zeiten, worinn die Erde
weit leerer an Menschen hat gewesen seyn müssen, als
sie nun ist. Zwischen den bessern ältern Zeiten und den
jetzigen hat es eine mittlere Zeit der Finsterniß und der
Barbarey gegeben, die fast die ganze alte Welt bedecket
und, das Vortheilhafte, was sie hatte, nicht übersehen,
doch als ein Beyspiel von Verschlimmerung der Mensch-
heit im Ganzen angeführet werden kann. Es scheinet
doch wenigstens, als wenn die Geschichte den erstern
Begriff von einer wachsenden Vervollkommnung der
Menschheit, die aber langsam zunimmt, auch wohl ihre
Epochen hat, in denen sie abnimmt und dennoch im Gan-
zen größer wird, mehr bestätige, als den zweeten von
einer beständigen Gleichheit des Ganzen. Sollten auch
die künftigen Revolutionen so groß seyn, daß auf die
Periode des Wachsens eine gleich große im Zurückgehen
folgen und einmal die erste Kindheit der Welt wieder
zurückkehren müßte, wie es nach einigen kosmologischen
Hypothesen alter Philosophen zu erwarten wäre: so ist

wieder-

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
wodurch die Menſchheit ausgebildet ward, zuſammen-
nimmt: ſo kann ſein großer Vorzug vor dem jetzigen,
das in Sklaverey und Unwiſſenheit verſenkt iſt, eben ſo
wenig zweifelhaft ſeyn, als das Uebergewicht am aͤußern
Wohlſtande, an Bequemlichkeit und an Vergnuͤgen der
damaligen Zeiten und der jetzigen es iſt.

Laͤßt ſich nicht etwas aͤhnliches in Hinſicht des gan-
zen
Geſchlechts behaupten? Die Geſchichte zeiget uns
daſſelbige in den aͤlteſten Zeiten in einem Zuſtande, den
wir, mit dem gegenwaͤrtigen verglichen, die Kindheit
der Welt nennen koͤnnen. Man hat daruͤber geſtritten,
ob die Bevoͤlkerung vor zwey tauſend Jahren groͤßer ge-
weſen ſey, als jetzo; und die Reſultate derer, die mit
vieler Gelehrſamkeit hieruͤber Berechnungen gemacht,
ſind verſchiedentlich ausgefallen. Aber wenn wir noch
weiter zuruͤckgehen, ſo treffen wir doch nach Ausſage der
glaubwuͤrdigſten Geſchichte auf Zeiten, worinn die Erde
weit leerer an Menſchen hat geweſen ſeyn muͤſſen, als
ſie nun iſt. Zwiſchen den beſſern aͤltern Zeiten und den
jetzigen hat es eine mittlere Zeit der Finſterniß und der
Barbarey gegeben, die faſt die ganze alte Welt bedecket
und, das Vortheilhafte, was ſie hatte, nicht uͤberſehen,
doch als ein Beyſpiel von Verſchlimmerung der Menſch-
heit im Ganzen angefuͤhret werden kann. Es ſcheinet
doch wenigſtens, als wenn die Geſchichte den erſtern
Begriff von einer wachſenden Vervollkommnung der
Menſchheit, die aber langſam zunimmt, auch wohl ihre
Epochen hat, in denen ſie abnimmt und dennoch im Gan-
zen groͤßer wird, mehr beſtaͤtige, als den zweeten von
einer beſtaͤndigen Gleichheit des Ganzen. Sollten auch
die kuͤnftigen Revolutionen ſo groß ſeyn, daß auf die
Periode des Wachſens eine gleich große im Zuruͤckgehen
folgen und einmal die erſte Kindheit der Welt wieder
zuruͤckkehren muͤßte, wie es nach einigen kosmologiſchen
Hypotheſen alter Philoſophen zu erwarten waͤre: ſo iſt

wieder-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0800" n="770"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
wodurch die Men&#x017F;chheit ausgebildet ward, zu&#x017F;ammen-<lb/>
nimmt: &#x017F;o kann &#x017F;ein großer Vorzug vor dem jetzigen,<lb/>
das in Sklaverey und Unwi&#x017F;&#x017F;enheit ver&#x017F;enkt i&#x017F;t, eben &#x017F;o<lb/>
wenig zweifelhaft &#x017F;eyn, als das Uebergewicht am a&#x0364;ußern<lb/>
Wohl&#x017F;tande, an Bequemlichkeit und an Vergnu&#x0364;gen der<lb/>
damaligen Zeiten und der jetzigen es i&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>La&#x0364;ßt &#x017F;ich nicht etwas a&#x0364;hnliches in Hin&#x017F;icht des <hi rendition="#fr">gan-<lb/>
zen</hi> Ge&#x017F;chlechts behaupten? Die Ge&#x017F;chichte zeiget uns<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbige in den a&#x0364;lte&#x017F;ten Zeiten in einem Zu&#x017F;tande, den<lb/>
wir, mit dem gegenwa&#x0364;rtigen verglichen, die <hi rendition="#fr">Kindheit</hi><lb/>
der Welt nennen ko&#x0364;nnen. Man hat daru&#x0364;ber ge&#x017F;tritten,<lb/>
ob die Bevo&#x0364;lkerung vor zwey tau&#x017F;end Jahren gro&#x0364;ßer ge-<lb/>
we&#x017F;en &#x017F;ey, als jetzo; und die Re&#x017F;ultate derer, die mit<lb/>
vieler Gelehr&#x017F;amkeit hieru&#x0364;ber Berechnungen gemacht,<lb/>
&#x017F;ind ver&#x017F;chiedentlich ausgefallen. Aber wenn wir noch<lb/>
weiter zuru&#x0364;ckgehen, &#x017F;o treffen wir doch nach Aus&#x017F;age der<lb/>
glaubwu&#x0364;rdig&#x017F;ten Ge&#x017F;chichte auf Zeiten, worinn die Erde<lb/>
weit leerer an Men&#x017F;chen hat gewe&#x017F;en &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, als<lb/>
&#x017F;ie nun i&#x017F;t. Zwi&#x017F;chen den be&#x017F;&#x017F;ern a&#x0364;ltern Zeiten und den<lb/>
jetzigen hat es eine mittlere Zeit der Fin&#x017F;terniß und der<lb/>
Barbarey gegeben, die fa&#x017F;t die ganze alte Welt bedecket<lb/>
und, das Vortheilhafte, was &#x017F;ie hatte, nicht u&#x0364;ber&#x017F;ehen,<lb/>
doch als ein Bey&#x017F;piel von Ver&#x017F;chlimmerung der Men&#x017F;ch-<lb/>
heit im Ganzen angefu&#x0364;hret werden kann. Es &#x017F;cheinet<lb/>
doch wenig&#x017F;tens, als wenn die Ge&#x017F;chichte den er&#x017F;tern<lb/>
Begriff von einer wach&#x017F;enden Vervollkommnung der<lb/>
Men&#x017F;chheit, die aber lang&#x017F;am zunimmt, auch wohl ihre<lb/>
Epochen hat, in denen &#x017F;ie abnimmt und dennoch im Gan-<lb/>
zen gro&#x0364;ßer wird, mehr be&#x017F;ta&#x0364;tige, als den zweeten von<lb/>
einer be&#x017F;ta&#x0364;ndigen Gleichheit des Ganzen. Sollten auch<lb/>
die ku&#x0364;nftigen Revolutionen &#x017F;o groß &#x017F;eyn, daß auf die<lb/>
Periode des Wach&#x017F;ens eine gleich große im Zuru&#x0364;ckgehen<lb/>
folgen und einmal die er&#x017F;te Kindheit der Welt wieder<lb/>
zuru&#x0364;ckkehren mu&#x0364;ßte, wie es nach einigen kosmologi&#x017F;chen<lb/>
Hypothe&#x017F;en alter Philo&#x017F;ophen zu erwarten wa&#x0364;re: &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wieder-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[770/0800] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt wodurch die Menſchheit ausgebildet ward, zuſammen- nimmt: ſo kann ſein großer Vorzug vor dem jetzigen, das in Sklaverey und Unwiſſenheit verſenkt iſt, eben ſo wenig zweifelhaft ſeyn, als das Uebergewicht am aͤußern Wohlſtande, an Bequemlichkeit und an Vergnuͤgen der damaligen Zeiten und der jetzigen es iſt. Laͤßt ſich nicht etwas aͤhnliches in Hinſicht des gan- zen Geſchlechts behaupten? Die Geſchichte zeiget uns daſſelbige in den aͤlteſten Zeiten in einem Zuſtande, den wir, mit dem gegenwaͤrtigen verglichen, die Kindheit der Welt nennen koͤnnen. Man hat daruͤber geſtritten, ob die Bevoͤlkerung vor zwey tauſend Jahren groͤßer ge- weſen ſey, als jetzo; und die Reſultate derer, die mit vieler Gelehrſamkeit hieruͤber Berechnungen gemacht, ſind verſchiedentlich ausgefallen. Aber wenn wir noch weiter zuruͤckgehen, ſo treffen wir doch nach Ausſage der glaubwuͤrdigſten Geſchichte auf Zeiten, worinn die Erde weit leerer an Menſchen hat geweſen ſeyn muͤſſen, als ſie nun iſt. Zwiſchen den beſſern aͤltern Zeiten und den jetzigen hat es eine mittlere Zeit der Finſterniß und der Barbarey gegeben, die faſt die ganze alte Welt bedecket und, das Vortheilhafte, was ſie hatte, nicht uͤberſehen, doch als ein Beyſpiel von Verſchlimmerung der Menſch- heit im Ganzen angefuͤhret werden kann. Es ſcheinet doch wenigſtens, als wenn die Geſchichte den erſtern Begriff von einer wachſenden Vervollkommnung der Menſchheit, die aber langſam zunimmt, auch wohl ihre Epochen hat, in denen ſie abnimmt und dennoch im Gan- zen groͤßer wird, mehr beſtaͤtige, als den zweeten von einer beſtaͤndigen Gleichheit des Ganzen. Sollten auch die kuͤnftigen Revolutionen ſo groß ſeyn, daß auf die Periode des Wachſens eine gleich große im Zuruͤckgehen folgen und einmal die erſte Kindheit der Welt wieder zuruͤckkehren muͤßte, wie es nach einigen kosmologiſchen Hypotheſen alter Philoſophen zu erwarten waͤre: ſo iſt wieder-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/800
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 770. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/800>, abgerufen am 29.03.2024.