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Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.

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Liebe aller Menschen.
wenn wir unser Thun und lassen genau exami-
ni
ren wollen/ anderen Menschen zum Theil aus
Versehen/ zum theil auch mit Vorsatz das jenige/
was wir ihnen aus obigen vier Tugenden schul-
dig waren/ nicht vollkommen erwiesen/ auch sie
zum öfftern beleidiget. Und wie es uns nun
wohl gefället/ wenn man uns dasselbige verzei-
het/ und sein Recht nicht allzustarck wieder uns
urgiret; Also erfordert auch die Gleichheit der
menschlichen Natur/ daß wir gegen andere eben-
mäßig das uns angethane Unrecht mit gleicher
Gedult vertragen/ u. s. w.

69.

Dieses aber scheinet etwas schwerer zu
seyn/ indem beynahe alle Gelehrten von diesen
allgemeinen Jrrthum eingenommen seyn/ als
ob die Behauptung seines Rechts mit Ge-
walt das wahre mittel sey/ wieder den/ der
unsere Gemüths-Ruhe stören wil/ dieselbe
zu erhalten/
und ihn zu einen friedlichen Leben
zu nöthigen; Dahero pfleget man in dem gemei-
nen Sprichwort zu sagen; man könne nicht län-
ger Friede halten als der Nachbar wolle. Der
Krieg sey das ausserordentliche Mittel sich Frie-
de und Ruhe zu schaffen. Ein jeder rechtmäßi-
ger Krieg habe keinen andern End-Zweck als
den Friede. So lange man Frieden haben
könne/ solle man denselben annehmen/ wo nicht/
müsse man den Krieg zur Hand nehmen. Krieg
sey besser als ein unsicherer Friede. u. s. w. Und
wir wollen das Gegentheil behaupten/ daß man

mit
P 4

Liebe aller Menſchen.
wenn wir unſer Thun und laſſen genau exami-
ni
ren wollen/ anderen Menſchen zum Theil aus
Verſehen/ zum theil auch mit Vorſatz das jenige/
was wir ihnen aus obigen vier Tugenden ſchul-
dig waren/ nicht vollkommen erwieſen/ auch ſie
zum oͤfftern beleidiget. Und wie es uns nun
wohl gefaͤllet/ wenn man uns daſſelbige verzei-
het/ und ſein Recht nicht allzuſtarck wieder uns
urgiret; Alſo erfordert auch die Gleichheit der
menſchlichen Natur/ daß wir gegen andere eben-
maͤßig das uns angethane Unrecht mit gleicher
Gedult vertragen/ u. ſ. w.

69.

Dieſes aber ſcheinet etwas ſchwerer zu
ſeyn/ indem beynahe alle Gelehrten von dieſen
allgemeinen Jrrthum eingenommen ſeyn/ als
ob die Behauptung ſeines Rechts mit Ge-
walt das wahre mittel ſey/ wieder den/ der
unſere Gemuͤths-Ruhe ſtoͤren wil/ dieſelbe
zu erhalten/
und ihn zu einen friedlichen Leben
zu noͤthigen; Dahero pfleget man in dem gemei-
nen Sprichwort zu ſagen; man koͤnne nicht laͤn-
ger Friede halten als der Nachbar wolle. Der
Krieg ſey das auſſerordentliche Mittel ſich Frie-
de und Ruhe zu ſchaffen. Ein jeder rechtmaͤßi-
ger Krieg habe keinen andern End-Zweck als
den Friede. So lange man Frieden haben
koͤnne/ ſolle man denſelben annehmen/ wo nicht/
muͤſſe man den Krieg zur Hand nehmen. Krieg
ſey beſſer als ein unſicherer Friede. u. ſ. w. Und
wir wollen das Gegentheil behaupten/ daß man

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[235[231]/0263] Liebe aller Menſchen. wenn wir unſer Thun und laſſen genau exami- niren wollen/ anderen Menſchen zum Theil aus Verſehen/ zum theil auch mit Vorſatz das jenige/ was wir ihnen aus obigen vier Tugenden ſchul- dig waren/ nicht vollkommen erwieſen/ auch ſie zum oͤfftern beleidiget. Und wie es uns nun wohl gefaͤllet/ wenn man uns daſſelbige verzei- het/ und ſein Recht nicht allzuſtarck wieder uns urgiret; Alſo erfordert auch die Gleichheit der menſchlichen Natur/ daß wir gegen andere eben- maͤßig das uns angethane Unrecht mit gleicher Gedult vertragen/ u. ſ. w. 69. Dieſes aber ſcheinet etwas ſchwerer zu ſeyn/ indem beynahe alle Gelehrten von dieſen allgemeinen Jrrthum eingenommen ſeyn/ als ob die Behauptung ſeines Rechts mit Ge- walt das wahre mittel ſey/ wieder den/ der unſere Gemuͤths-Ruhe ſtoͤren wil/ dieſelbe zu erhalten/ und ihn zu einen friedlichen Leben zu noͤthigen; Dahero pfleget man in dem gemei- nen Sprichwort zu ſagen; man koͤnne nicht laͤn- ger Friede halten als der Nachbar wolle. Der Krieg ſey das auſſerordentliche Mittel ſich Frie- de und Ruhe zu ſchaffen. Ein jeder rechtmaͤßi- ger Krieg habe keinen andern End-Zweck als den Friede. So lange man Frieden haben koͤnne/ ſolle man denſelben annehmen/ wo nicht/ muͤſſe man den Krieg zur Hand nehmen. Krieg ſey beſſer als ein unſicherer Friede. u. ſ. w. Und wir wollen das Gegentheil behaupten/ daß man mit P 4

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Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 235[231]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/263>, abgerufen am 28.03.2024.