Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweite Abtheilung.
dieser Ton, der gegenwärtige, schon seinem Unter-
gang entgegen.

Tempo Primo.

Doch die Erinnrung bleibt, und sie wird wie-
der Gegenwart: muß ich doch diese auch beleben
und mit meinem Bewußtsein durchdringen, darum
kann ich das was War und Ist und seyn Wird
in Einem Zauber binden.

Violino Primo Solo.

Wie? Es wäre nicht erlaubt und möglich, in
Tönen zu denken und in Worten und Gedanken
zu musiziren? O wie schlecht wäre es dann mit
uns Künstlern bestellt! Wie arme Sprache, wie
ärmere Musik! Denkt Ihr nicht so manche Ge-
danken so fein und geistig, daß diese sich in Ver-
zweiflung in Musik hineinretten, um nur Ruhe
endlich zu finden? Wie oft, daß ein zergrübelter
Tag nur ein Summen und Brummen zurück läßt,
das sich erst später wieder zur Melodie belebt?
Was redet uns in Tönen oft so licht und über-
zeugend an? Ach ihr lieben Leute, (die Zuhörer
mein ich) das meiste in der Welt gränzt weit mehr
an einander, als Ihr es meint, darum seid billig
seid nachsichtig, und nicht gleich vor den Kopf ge-
schlagen, wenn Ihr einmal ein paradoxen Satz
antrefft; denn vielleicht ist, was Euch so unbehag-
lich verwundert, nur das Gefühl, daß Ihr dem
Magnetberge nahe kommt, der in Euch alle eisernen
Fugen und Klammern los zieht: das Schiff, welches

Zweite Abtheilung.
dieſer Ton, der gegenwaͤrtige, ſchon ſeinem Unter-
gang entgegen.

Tempo Primo.

Doch die Erinnrung bleibt, und ſie wird wie-
der Gegenwart: muß ich doch dieſe auch beleben
und mit meinem Bewußtſein durchdringen, darum
kann ich das was War und Iſt und ſeyn Wird
in Einem Zauber binden.

Violino Primo Solo.

Wie? Es waͤre nicht erlaubt und moͤglich, in
Toͤnen zu denken und in Worten und Gedanken
zu muſiziren? O wie ſchlecht waͤre es dann mit
uns Kuͤnſtlern beſtellt! Wie arme Sprache, wie
aͤrmere Muſik! Denkt Ihr nicht ſo manche Ge-
danken ſo fein und geiſtig, daß dieſe ſich in Ver-
zweiflung in Muſik hineinretten, um nur Ruhe
endlich zu finden? Wie oft, daß ein zergruͤbelter
Tag nur ein Summen und Brummen zuruͤck laͤßt,
das ſich erſt ſpaͤter wieder zur Melodie belebt?
Was redet uns in Toͤnen oft ſo licht und uͤber-
zeugend an? Ach ihr lieben Leute, (die Zuhoͤrer
mein ich) das meiſte in der Welt graͤnzt weit mehr
an einander, als Ihr es meint, darum ſeid billig
ſeid nachſichtig, und nicht gleich vor den Kopf ge-
ſchlagen, wenn Ihr einmal ein paradoxen Satz
antrefft; denn vielleicht iſt, was Euch ſo unbehag-
lich verwundert, nur das Gefuͤhl, daß Ihr dem
Magnetberge nahe kommt, der in Euch alle eiſernen
Fugen und Klammern los zieht: das Schiff, welches

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0263" n="254"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
die&#x017F;er Ton, der gegenwa&#x0364;rtige, &#x017F;chon &#x017F;einem Unter-<lb/>
gang entgegen.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Tempo Primo</hi>.</hi> </head><lb/>
              <p>Doch die Erinnrung bleibt, und &#x017F;ie wird wie-<lb/>
der Gegenwart: muß ich doch die&#x017F;e auch beleben<lb/>
und mit meinem Bewußt&#x017F;ein durchdringen, darum<lb/>
kann ich das was War und I&#x017F;t und &#x017F;eyn Wird<lb/>
in Einem Zauber binden.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Violino Primo Solo</hi>.</hi> </head><lb/>
              <p>Wie? Es wa&#x0364;re nicht erlaubt und mo&#x0364;glich, in<lb/>
To&#x0364;nen zu denken und in Worten und Gedanken<lb/>
zu mu&#x017F;iziren? O wie &#x017F;chlecht wa&#x0364;re es dann mit<lb/>
uns Ku&#x0364;n&#x017F;tlern be&#x017F;tellt! Wie arme Sprache, wie<lb/>
a&#x0364;rmere Mu&#x017F;ik! Denkt Ihr nicht &#x017F;o manche Ge-<lb/>
danken &#x017F;o fein und gei&#x017F;tig, daß die&#x017F;e &#x017F;ich in Ver-<lb/>
zweiflung in Mu&#x017F;ik hineinretten, um nur Ruhe<lb/>
endlich zu finden? Wie oft, daß ein zergru&#x0364;belter<lb/>
Tag nur ein Summen und Brummen zuru&#x0364;ck la&#x0364;ßt,<lb/>
das &#x017F;ich er&#x017F;t &#x017F;pa&#x0364;ter wieder zur Melodie belebt?<lb/>
Was redet uns in To&#x0364;nen oft &#x017F;o licht und u&#x0364;ber-<lb/>
zeugend an? Ach ihr lieben Leute, (die Zuho&#x0364;rer<lb/>
mein ich) das mei&#x017F;te in der Welt gra&#x0364;nzt weit mehr<lb/>
an einander, als Ihr es meint, darum &#x017F;eid billig<lb/>
&#x017F;eid nach&#x017F;ichtig, und nicht gleich vor den Kopf ge-<lb/>
&#x017F;chlagen, wenn Ihr einmal ein paradoxen Satz<lb/>
antrefft; denn vielleicht i&#x017F;t, was Euch &#x017F;o unbehag-<lb/>
lich verwundert, nur das Gefu&#x0364;hl, daß Ihr dem<lb/>
Magnetberge nahe kommt, der in Euch alle ei&#x017F;ernen<lb/>
Fugen und Klammern los zieht: das Schiff, welches<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[254/0263] Zweite Abtheilung. dieſer Ton, der gegenwaͤrtige, ſchon ſeinem Unter- gang entgegen. Tempo Primo. Doch die Erinnrung bleibt, und ſie wird wie- der Gegenwart: muß ich doch dieſe auch beleben und mit meinem Bewußtſein durchdringen, darum kann ich das was War und Iſt und ſeyn Wird in Einem Zauber binden. Violino Primo Solo. Wie? Es waͤre nicht erlaubt und moͤglich, in Toͤnen zu denken und in Worten und Gedanken zu muſiziren? O wie ſchlecht waͤre es dann mit uns Kuͤnſtlern beſtellt! Wie arme Sprache, wie aͤrmere Muſik! Denkt Ihr nicht ſo manche Ge- danken ſo fein und geiſtig, daß dieſe ſich in Ver- zweiflung in Muſik hineinretten, um nur Ruhe endlich zu finden? Wie oft, daß ein zergruͤbelter Tag nur ein Summen und Brummen zuruͤck laͤßt, das ſich erſt ſpaͤter wieder zur Melodie belebt? Was redet uns in Toͤnen oft ſo licht und uͤber- zeugend an? Ach ihr lieben Leute, (die Zuhoͤrer mein ich) das meiſte in der Welt graͤnzt weit mehr an einander, als Ihr es meint, darum ſeid billig ſeid nachſichtig, und nicht gleich vor den Kopf ge- ſchlagen, wenn Ihr einmal ein paradoxen Satz antrefft; denn vielleicht iſt, was Euch ſo unbehag- lich verwundert, nur das Gefuͤhl, daß Ihr dem Magnetberge nahe kommt, der in Euch alle eiſernen Fugen und Klammern los zieht: das Schiff, welches

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812/263
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812/263>, abgerufen am 28.03.2024.