Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweite Abtheilung.
Variazio I.

Das Neue ist bei einer Menuet, wie bei al-
len Vernünftigen, ein sehr entbehrliches Prädikat;
in recht neumodischen Menuetten kommt man gar
leicht aus dem Takt. Ob das Schauspiel nicht
ganz ohne Takt-Abtheilung mag geschrieben seyn?
-- Aber wozu all die Verwirrung? Krieg und Frie-
den, Ernst und Scherz? Nichts ist durchgeführt,
keine Idee hält uns Stand. Wozu die Qual, da
wir schwerlich unterhalten sind.

Je nun, so sind wir doch gequält, und das
ist vielleicht jezuweilen auch Unterhaltung.

Variazio II.

Wer darauf ausgeht, etwas Unerhörtes zu
schaffen, kann gar leicht ins Alberne, und hinter
die ersten Anfangsgründe des Verständigen gera-
then, weil nirgend warnende Tonnen gelegt sind,
den Schiffer von Untiefen und Sandbänken zurück-
zuweisen. Der Verirrte hält dann das Kindische
für das Neue und Seltsame; aus Sucht zum Ex-
centrischen ist er abgeschmackt geworden; o wehe
dem Dichter, der in das Gebiet hinein segelt? --
Aber, ist es nicht vielleicht dem gegenwärtigen so
ergangen? -- Den englischen Lustspieldichtern hat
man oft vorgeworfen, daß sie die dummen Charak-
tere mit vielem Witze schilderten, diejenigen aber
ohne Witz und Verstand auftreten ließen, die im
Stücke für witzig und geistreich ausgegeben wur-
den; von den deutschen Lustspielern kann man dies

Zweite Abtheilung.
Variazio I.

Das Neue iſt bei einer Menuet, wie bei al-
len Vernuͤnftigen, ein ſehr entbehrliches Praͤdikat;
in recht neumodiſchen Menuetten kommt man gar
leicht aus dem Takt. Ob das Schauſpiel nicht
ganz ohne Takt-Abtheilung mag geſchrieben ſeyn?
— Aber wozu all die Verwirrung? Krieg und Frie-
den, Ernſt und Scherz? Nichts iſt durchgefuͤhrt,
keine Idee haͤlt uns Stand. Wozu die Qual, da
wir ſchwerlich unterhalten ſind.

Je nun, ſo ſind wir doch gequaͤlt, und das
iſt vielleicht jezuweilen auch Unterhaltung.

Variazio II.

Wer darauf ausgeht, etwas Unerhoͤrtes zu
ſchaffen, kann gar leicht ins Alberne, und hinter
die erſten Anfangsgruͤnde des Verſtaͤndigen gera-
then, weil nirgend warnende Tonnen gelegt ſind,
den Schiffer von Untiefen und Sandbaͤnken zuruͤck-
zuweiſen. Der Verirrte haͤlt dann das Kindiſche
fuͤr das Neue und Seltſame; aus Sucht zum Ex-
centriſchen iſt er abgeſchmackt geworden; o wehe
dem Dichter, der in das Gebiet hinein ſegelt? —
Aber, iſt es nicht vielleicht dem gegenwaͤrtigen ſo
ergangen? — Den engliſchen Luſtſpieldichtern hat
man oft vorgeworfen, daß ſie die dummen Charak-
tere mit vielem Witze ſchilderten, diejenigen aber
ohne Witz und Verſtand auftreten ließen, die im
Stuͤcke fuͤr witzig und geiſtreich ausgegeben wur-
den; von den deutſchen Luſtſpielern kann man dies

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0375" n="366"/>
                <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
                <div n="6">
                  <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Variazio</hi> <hi rendition="#aq">I.</hi> </hi> </head><lb/>
                  <p>Das Neue i&#x017F;t bei einer Menuet, wie bei al-<lb/>
len Vernu&#x0364;nftigen, ein &#x017F;ehr entbehrliches Pra&#x0364;dikat;<lb/>
in recht neumodi&#x017F;chen Menuetten kommt man gar<lb/>
leicht aus dem Takt. Ob das Schau&#x017F;piel nicht<lb/>
ganz ohne Takt-Abtheilung mag ge&#x017F;chrieben &#x017F;eyn?<lb/>
&#x2014; Aber wozu all die Verwirrung? Krieg und Frie-<lb/>
den, Ern&#x017F;t und Scherz? Nichts i&#x017F;t durchgefu&#x0364;hrt,<lb/>
keine Idee ha&#x0364;lt uns Stand. Wozu die Qual, da<lb/>
wir &#x017F;chwerlich unterhalten &#x017F;ind.</p><lb/>
                  <p>Je nun, &#x017F;o &#x017F;ind wir doch gequa&#x0364;lt, und das<lb/>
i&#x017F;t vielleicht jezuweilen auch Unterhaltung.</p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Variazio</hi> <hi rendition="#aq">II.</hi> </hi> </head><lb/>
                  <p>Wer darauf ausgeht, etwas Unerho&#x0364;rtes zu<lb/>
&#x017F;chaffen, kann gar leicht ins Alberne, und hinter<lb/>
die er&#x017F;ten Anfangsgru&#x0364;nde des Ver&#x017F;ta&#x0364;ndigen gera-<lb/>
then, weil nirgend warnende Tonnen gelegt &#x017F;ind,<lb/>
den Schiffer von Untiefen und Sandba&#x0364;nken zuru&#x0364;ck-<lb/>
zuwei&#x017F;en. Der Verirrte ha&#x0364;lt dann das Kindi&#x017F;che<lb/>
fu&#x0364;r das Neue und Selt&#x017F;ame; aus Sucht zum Ex-<lb/>
centri&#x017F;chen i&#x017F;t er abge&#x017F;chmackt geworden; o wehe<lb/>
dem Dichter, der in das Gebiet hinein &#x017F;egelt? &#x2014;<lb/>
Aber, i&#x017F;t es nicht vielleicht dem gegenwa&#x0364;rtigen &#x017F;o<lb/>
ergangen? &#x2014; Den engli&#x017F;chen Lu&#x017F;t&#x017F;pieldichtern hat<lb/>
man oft vorgeworfen, daß &#x017F;ie die dummen Charak-<lb/>
tere mit vielem Witze &#x017F;childerten, diejenigen aber<lb/>
ohne Witz und Ver&#x017F;tand auftreten ließen, die im<lb/>
Stu&#x0364;cke fu&#x0364;r witzig und gei&#x017F;treich ausgegeben wur-<lb/>
den; von den deut&#x017F;chen Lu&#x017F;t&#x017F;pielern kann man dies<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[366/0375] Zweite Abtheilung. Variazio I. Das Neue iſt bei einer Menuet, wie bei al- len Vernuͤnftigen, ein ſehr entbehrliches Praͤdikat; in recht neumodiſchen Menuetten kommt man gar leicht aus dem Takt. Ob das Schauſpiel nicht ganz ohne Takt-Abtheilung mag geſchrieben ſeyn? — Aber wozu all die Verwirrung? Krieg und Frie- den, Ernſt und Scherz? Nichts iſt durchgefuͤhrt, keine Idee haͤlt uns Stand. Wozu die Qual, da wir ſchwerlich unterhalten ſind. Je nun, ſo ſind wir doch gequaͤlt, und das iſt vielleicht jezuweilen auch Unterhaltung. Variazio II. Wer darauf ausgeht, etwas Unerhoͤrtes zu ſchaffen, kann gar leicht ins Alberne, und hinter die erſten Anfangsgruͤnde des Verſtaͤndigen gera- then, weil nirgend warnende Tonnen gelegt ſind, den Schiffer von Untiefen und Sandbaͤnken zuruͤck- zuweiſen. Der Verirrte haͤlt dann das Kindiſche fuͤr das Neue und Seltſame; aus Sucht zum Ex- centriſchen iſt er abgeſchmackt geworden; o wehe dem Dichter, der in das Gebiet hinein ſegelt? — Aber, iſt es nicht vielleicht dem gegenwaͤrtigen ſo ergangen? — Den engliſchen Luſtſpieldichtern hat man oft vorgeworfen, daß ſie die dummen Charak- tere mit vielem Witze ſchilderten, diejenigen aber ohne Witz und Verſtand auftreten ließen, die im Stuͤcke fuͤr witzig und geiſtreich ausgegeben wur- den; von den deutſchen Luſtſpielern kann man dies

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812/375
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812/375>, abgerufen am 29.03.2024.