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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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Eigenschaften oder Kräfte sind und mit solcher Tendenz
geübt zu werden scheinen. Wogegen denn um so mehr ihr
Mangel oder ihr Gegentheil nicht bloss verachtet und ge-
tadelt wird, sondern auch als directe beleidigender und
also böser Wille (welcher Unwillen rege macht, wie der
gute Wille Sympathie erweckt) sich darstellen kann. Be-
wundert werden die Tugenden, verachtet ihre Gegentheile
(wir könnten sagen: die Laster, aber wider den Gebrauch
unserer Sprache, worin das Wort keineswegs so weite Be-
deutung hat), auch als Eigenschaften von Feinden, und
doch können jene dann ebenso fürchterlich, als diese an-
genehm und vortheilhaft sein.

§ 10.

Es ist eine durchaus andere Betrachtung, welche den
Willen als Gedankenproduct, als Willkür zu ihrem Gegen-
stande nimmt. Denn ihre Möglichkeit setzt schon die fer-
tige Gestalt des menschlichen Organismus-Willens als ihre
Bedingung voraus, und die unzähligen Ansätze, welche als
Vorstellungen zukünftiger Thätigkeit in jedem Gedächtnisse
sich finden, können nur durch festgehaltene und erneuerte,
erweiterte Arbeit des Denkens zu mannigfachen Bildungen
gelangen. Die einzelnen Tendenzen oder Kräfte, als ge-
dachte, ordnen sich oder werden geordnet zu Systemen, in
welchen jede ihre Stellung hat und das Ihrige leistet, in
Bezug auf die anderen. Solche Einheit aber ist immer, dem
Denken gegenüber sich vorstellend, eine Möglichkeit des
ganzen Menschenwesens, sich zu äussern, zu wirken. Ein
gedachter Zweck, d. i. ein zu erreichender Gegenstand oder
ein erwünschtes Geschehniss, gibt immer das Maas ab,
in Bezug auf welches die vorgenommenen Thätigkeiten ge-
richtet werden, und -- im vollkommenen Falle -- beherrscht
der Gedanke an den Zweck alle anderen Gedanken und
Ueberlegungen, folglich alle mit Willkür wählbaren Hand-
lungen; sie müssen ihm dienen, zu ihm hinführen (conducere)
oder wenigstens ihm nicht hinderlich sein. Dem einen
Zwecke ordnen daher viele Zwecke sich unter, oder viele
Zweckgedanken vereinigen sich auf einen gemeinsamen,

Eigenschaften oder Kräfte sind und mit solcher Tendenz
geübt zu werden scheinen. Wogegen denn um so mehr ihr
Mangel oder ihr Gegentheil nicht bloss verachtet und ge-
tadelt wird, sondern auch als directe beleidigender und
also böser Wille (welcher Unwillen rege macht, wie der
gute Wille Sympathie erweckt) sich darstellen kann. Be-
wundert werden die Tugenden, verachtet ihre Gegentheile
(wir könnten sagen: die Laster, aber wider den Gebrauch
unserer Sprache, worin das Wort keineswegs so weite Be-
deutung hat), auch als Eigenschaften von Feinden, und
doch können jene dann ebenso fürchterlich, als diese an-
genehm und vortheilhaft sein.

§ 10.

Es ist eine durchaus andere Betrachtung, welche den
Willen als Gedankenproduct, als Willkür zu ihrem Gegen-
stande nimmt. Denn ihre Möglichkeit setzt schon die fer-
tige Gestalt des menschlichen Organismus-Willens als ihre
Bedingung voraus, und die unzähligen Ansätze, welche als
Vorstellungen zukünftiger Thätigkeit in jedem Gedächtnisse
sich finden, können nur durch festgehaltene und erneuerte,
erweiterte Arbeit des Denkens zu mannigfachen Bildungen
gelangen. Die einzelnen Tendenzen oder Kräfte, als ge-
dachte, ordnen sich oder werden geordnet zu Systemen, in
welchen jede ihre Stellung hat und das Ihrige leistet, in
Bezug auf die anderen. Solche Einheit aber ist immer, dem
Denken gegenüber sich vorstellend, eine Möglichkeit des
ganzen Menschenwesens, sich zu äussern, zu wirken. Ein
gedachter Zweck, d. i. ein zu erreichender Gegenstand oder
ein erwünschtes Geschehniss, gibt immer das Maas ab,
in Bezug auf welches die vorgenommenen Thätigkeiten ge-
richtet werden, und — im vollkommenen Falle — beherrscht
der Gedanke an den Zweck alle anderen Gedanken und
Ueberlegungen, folglich alle mit Willkür wählbaren Hand-
lungen; sie müssen ihm dienen, zu ihm hinführen (conducere)
oder wenigstens ihm nicht hinderlich sein. Dem einen
Zwecke ordnen daher viele Zwecke sich unter, oder viele
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[122/0158] Eigenschaften oder Kräfte sind und mit solcher Tendenz geübt zu werden scheinen. Wogegen denn um so mehr ihr Mangel oder ihr Gegentheil nicht bloss verachtet und ge- tadelt wird, sondern auch als directe beleidigender und also böser Wille (welcher Unwillen rege macht, wie der gute Wille Sympathie erweckt) sich darstellen kann. Be- wundert werden die Tugenden, verachtet ihre Gegentheile (wir könnten sagen: die Laster, aber wider den Gebrauch unserer Sprache, worin das Wort keineswegs so weite Be- deutung hat), auch als Eigenschaften von Feinden, und doch können jene dann ebenso fürchterlich, als diese an- genehm und vortheilhaft sein. § 10. Es ist eine durchaus andere Betrachtung, welche den Willen als Gedankenproduct, als Willkür zu ihrem Gegen- stande nimmt. Denn ihre Möglichkeit setzt schon die fer- tige Gestalt des menschlichen Organismus-Willens als ihre Bedingung voraus, und die unzähligen Ansätze, welche als Vorstellungen zukünftiger Thätigkeit in jedem Gedächtnisse sich finden, können nur durch festgehaltene und erneuerte, erweiterte Arbeit des Denkens zu mannigfachen Bildungen gelangen. Die einzelnen Tendenzen oder Kräfte, als ge- dachte, ordnen sich oder werden geordnet zu Systemen, in welchen jede ihre Stellung hat und das Ihrige leistet, in Bezug auf die anderen. Solche Einheit aber ist immer, dem Denken gegenüber sich vorstellend, eine Möglichkeit des ganzen Menschenwesens, sich zu äussern, zu wirken. Ein gedachter Zweck, d. i. ein zu erreichender Gegenstand oder ein erwünschtes Geschehniss, gibt immer das Maas ab, in Bezug auf welches die vorgenommenen Thätigkeiten ge- richtet werden, und — im vollkommenen Falle — beherrscht der Gedanke an den Zweck alle anderen Gedanken und Ueberlegungen, folglich alle mit Willkür wählbaren Hand- lungen; sie müssen ihm dienen, zu ihm hinführen (conducere) oder wenigstens ihm nicht hinderlich sein. Dem einen Zwecke ordnen daher viele Zwecke sich unter, oder viele Zweckgedanken vereinigen sich auf einen gemeinsamen,

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/158>, abgerufen am 18.04.2024.