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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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(to thumotikon) als zum animalischen Leben und zur Irri-
tabilität gehörig, am stärksten vorhanden ist: Leidenschaft,
ihrem Begriffe nach passiver Wille, ist im Manne activer;
Muth, seinem Begriffe nach activer Wille, ist im Weibe
(als Geduld, Standhaftigkeit) mehr von passiver Art. Genie,
der geistige Wille (to noetikon), hat an beiden Charakteren
einen gleichmässigen Antheil; im weiblichen Wesen be-
ruhend, vollendet er sich im männlichen: er ist so viel
inneres, dunkles, passives, als äusseres, helles, actives Leben
und Denken.

§ 35.

Auf gleiche Weise aber wie Weibliches und Männ-
liches, in den meisten dieser Beziehungen, verhalten sich
Jugend und Alter. Das jugendliche Weib ist das eigent-
liche Weib; das alte Weib wird dem Manne ähnlicher. Und
der junge Mann hat noch des Weiblichen viel in seinem
Wesen; der gereifte, ältere Mann ist der wahre Mann. So
gehören denn Frauen und Kinder zusammen, als von
gleichem Geiste, und einander leicht verstehend. Kinder
sind naiv, harmlos, leben im Gegenwärtigen, durch die
Natur, das Haus, und durch den Willen der Liebenden und
Pflegenden, in ihrer Lebensweise und ihrem einfachen
Berufe bestimmt. Das Wachsthum oder die Auswickelung
der in ihnen schlummernden A[ - 4 Zeichen fehlen]n -- Neigungen und
Fähigkeiten -- macht den eigenth[ - 6 Zeichen fehlen] [ - 3 Zeichen fehlen]alt ihres Daseins
aus. Dadurch erscheinen sie als wahre unschuldige
Geschöpfe, d. i. als auch was sie Uebels thun aus einem
ihnen fremden, in ihnen mächtigen Geiste wirkend. Erst
durch das Denken und Wissen oder das Gelernt-Haben
des Richtigen und der Pflicht, also durch Gedächtniss und
Gewissen, wird der Mensch er selber und wird verant-
wortlich, d. h. weiss was er thut. Aber doch findet dies
erst seine vollkommene Erfüllung, wenn er mit kaltem
Blute, mit Vor-Bedacht gehandelt hat, zu seinem eigenen
Vortheile, ganz als ein Vernünftiger. Alsdann ist auch das
Gesetz und die Regel nicht mehr über und in ihm, sondern
unter und ausser ihm, er befolgt es nicht, weil und wann

(το ϑυμωτικον) als zum animalischen Leben und zur Irri-
tabilität gehörig, am stärksten vorhanden ist: Leidenschaft,
ihrem Begriffe nach passiver Wille, ist im Manne activer;
Muth, seinem Begriffe nach activer Wille, ist im Weibe
(als Geduld, Standhaftigkeit) mehr von passiver Art. Genie,
der geistige Wille (το νοητικον), hat an beiden Charakteren
einen gleichmässigen Antheil; im weiblichen Wesen be-
ruhend, vollendet er sich im männlichen: er ist so viel
inneres, dunkles, passives, als äusseres, helles, actives Leben
und Denken.

§ 35.

Auf gleiche Weise aber wie Weibliches und Männ-
liches, in den meisten dieser Beziehungen, verhalten sich
Jugend und Alter. Das jugendliche Weib ist das eigent-
liche Weib; das alte Weib wird dem Manne ähnlicher. Und
der junge Mann hat noch des Weiblichen viel in seinem
Wesen; der gereifte, ältere Mann ist der wahre Mann. So
gehören denn Frauen und Kinder zusammen, als von
gleichem Geiste, und einander leicht verstehend. Kinder
sind naiv, harmlos, leben im Gegenwärtigen, durch die
Natur, das Haus, und durch den Willen der Liebenden und
Pflegenden, in ihrer Lebensweise und ihrem einfachen
Berufe bestimmt. Das Wachsthum oder die Auswickelung
der in ihnen schlummernden A[ – 4 Zeichen fehlen]n — Neigungen und
Fähigkeiten — macht den eigenth[ – 6 Zeichen fehlen] [ – 3 Zeichen fehlen]alt ihres Daseins
aus. Dadurch erscheinen sie als wahre unschuldige
Geschöpfe, d. i. als auch was sie Uebels thun aus einem
ihnen fremden, in ihnen mächtigen Geiste wirkend. Erst
durch das Denken und Wissen oder das Gelernt-Haben
des Richtigen und der Pflicht, also durch Gedächtniss und
Gewissen, wird der Mensch er selber und wird verant-
wortlich, d. h. weiss was er thut. Aber doch findet dies
erst seine vollkommene Erfüllung, wenn er mit kaltem
Blute, mit Vor-Bedacht gehandelt hat, zu seinem eigenen
Vortheile, ganz als ein Vernünftiger. Alsdann ist auch das
Gesetz und die Regel nicht mehr über und in ihm, sondern
unter und ausser ihm, er befolgt es nicht, weil und wann

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[174/0210] (το ϑυμωτικον) als zum animalischen Leben und zur Irri- tabilität gehörig, am stärksten vorhanden ist: Leidenschaft, ihrem Begriffe nach passiver Wille, ist im Manne activer; Muth, seinem Begriffe nach activer Wille, ist im Weibe (als Geduld, Standhaftigkeit) mehr von passiver Art. Genie, der geistige Wille (το νοητικον), hat an beiden Charakteren einen gleichmässigen Antheil; im weiblichen Wesen be- ruhend, vollendet er sich im männlichen: er ist so viel inneres, dunkles, passives, als äusseres, helles, actives Leben und Denken. § 35. Auf gleiche Weise aber wie Weibliches und Männ- liches, in den meisten dieser Beziehungen, verhalten sich Jugend und Alter. Das jugendliche Weib ist das eigent- liche Weib; das alte Weib wird dem Manne ähnlicher. Und der junge Mann hat noch des Weiblichen viel in seinem Wesen; der gereifte, ältere Mann ist der wahre Mann. So gehören denn Frauen und Kinder zusammen, als von gleichem Geiste, und einander leicht verstehend. Kinder sind naiv, harmlos, leben im Gegenwärtigen, durch die Natur, das Haus, und durch den Willen der Liebenden und Pflegenden, in ihrer Lebensweise und ihrem einfachen Berufe bestimmt. Das Wachsthum oder die Auswickelung der in ihnen schlummernden A____n — Neigungen und Fähigkeiten — macht den eigenth______ ___alt ihres Daseins aus. Dadurch erscheinen sie als wahre unschuldige Geschöpfe, d. i. als auch was sie Uebels thun aus einem ihnen fremden, in ihnen mächtigen Geiste wirkend. Erst durch das Denken und Wissen oder das Gelernt-Haben des Richtigen und der Pflicht, also durch Gedächtniss und Gewissen, wird der Mensch er selber und wird verant- wortlich, d. h. weiss was er thut. Aber doch findet dies erst seine vollkommene Erfüllung, wenn er mit kaltem Blute, mit Vor-Bedacht gehandelt hat, zu seinem eigenen Vortheile, ganz als ein Vernünftiger. Alsdann ist auch das Gesetz und die Regel nicht mehr über und in ihm, sondern unter und ausser ihm, er befolgt es nicht, weil und wann

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/210>, abgerufen am 29.03.2024.