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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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der als solcher unbesonnen ist, zu Hülfe kömmt. Jedoch:
die hauptsächliche Bedingung für ein reines willkürliches
Verfahren bleibt immer die Unabhängigkeit des denkenden
Gehirnes, und sein Reichthum, wodurch es über eine
Fülle gesammelter Erfahrung, hieraus gebildeter und von
aussen angeeigneter Wissenschaft verfügt, klug geworden,
seinen d. i. seines Leibes und Lebens Nutzen erkannt hat.
Und dies ist der Zug, welcher dem Alten eigenthümlich
ist, zumal wenn seine Angelegenheiten und Gedanken alle
auf bestimmte, einfache Ziele, welche durch Klugheit er-
reichbar scheinen, sich concentriren: wie ganz besonders
die Vermehrung der Habe oder Erhöhung der Geltung,
des Einflusses, der Ehre solche natürliche Ziele sind, als
Dinge und Freuden, die unter allen Umständen und allen
Menschen willkommen sind, aber ihren ausschliesslichen
Werth und Reiz erst gewinnen, wenn sie 1) schon genossen
worden sind, also bekannt sind, und 2) nachdem andere,
minder besonnene und vernünftige Liebhabereien, die dem
jüngeren Menschen "in den Gliedern sitzen", alle jene Er-
scheinungsformen der ursprünglichen, übersprudelnden Irri-
tabilität und Lust zu leben, zu kämpfen, zu spielen (wie man
sagt) ausgetobt haben, stille geworden sind. So ist das bedeu-
tende Wort zu verstehen, welches, auch sonst dieser Be-
trachtung vielfach hingegeben, Goethe als ein Motto er-
wählte, dass "was man in der Jugend sich wünscht, hat
man im Alter die Fülle", nämlich (so wird diese Idee sich
erläutern) die Mittel und Methoden des Glückes; hingegen
der wirkliche Genuss desselben und seine innere Bedingung
ist die Jugend selber und was ihr angehört, durch keine
Künste wiedergewinnbar.

§ 36.

Während nun der Gegensatz der Geschlechter ein
beharrender und starrer ist, ebendarum auch nur in seltenen
Fällen vollkommen ausgeprägt gefunden wird: so ist der
Gegensatz der Lebensalter wohl entschiedener, aber zugleich
ganz und gar fliessend und kann nur in Entwicklung beob-
achtet werden. Und während jener im vegetativen Leben

der als solcher unbesonnen ist, zu Hülfe kömmt. Jedoch:
die hauptsächliche Bedingung für ein reines willkürliches
Verfahren bleibt immer die Unabhängigkeit des denkenden
Gehirnes, und sein Reichthum, wodurch es über eine
Fülle gesammelter Erfahrung, hieraus gebildeter und von
aussen angeeigneter Wissenschaft verfügt, klug geworden,
seinen d. i. seines Leibes und Lebens Nutzen erkannt hat.
Und dies ist der Zug, welcher dem Alten eigenthümlich
ist, zumal wenn seine Angelegenheiten und Gedanken alle
auf bestimmte, einfache Ziele, welche durch Klugheit er-
reichbar scheinen, sich concentriren: wie ganz besonders
die Vermehrung der Habe oder Erhöhung der Geltung,
des Einflusses, der Ehre solche natürliche Ziele sind, als
Dinge und Freuden, die unter allen Umständen und allen
Menschen willkommen sind, aber ihren ausschliesslichen
Werth und Reiz erst gewinnen, wenn sie 1) schon genossen
worden sind, also bekannt sind, und 2) nachdem andere,
minder besonnene und vernünftige Liebhabereien, die dem
jüngeren Menschen »in den Gliedern sitzen«, alle jene Er-
scheinungsformen der ursprünglichen, übersprudelnden Irri-
tabilität und Lust zu leben, zu kämpfen, zu spielen (wie man
sagt) ausgetobt haben, stille geworden sind. So ist das bedeu-
tende Wort zu verstehen, welches, auch sonst dieser Be-
trachtung vielfach hingegeben, Goethe als ein Motto er-
wählte, dass »was man in der Jugend sich wünscht, hat
man im Alter die Fülle«, nämlich (so wird diese Idee sich
erläutern) die Mittel und Methoden des Glückes; hingegen
der wirkliche Genuss desselben und seine innere Bedingung
ist die Jugend selber und was ihr angehört, durch keine
Künste wiedergewinnbar.

§ 36.

Während nun der Gegensatz der Geschlechter ein
beharrender und starrer ist, ebendarum auch nur in seltenen
Fällen vollkommen ausgeprägt gefunden wird: so ist der
Gegensatz der Lebensalter wohl entschiedener, aber zugleich
ganz und gar fliessend und kann nur in Entwicklung beob-
achtet werden. Und während jener im vegetativen Leben

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[176/0212] der als solcher unbesonnen ist, zu Hülfe kömmt. Jedoch: die hauptsächliche Bedingung für ein reines willkürliches Verfahren bleibt immer die Unabhängigkeit des denkenden Gehirnes, und sein Reichthum, wodurch es über eine Fülle gesammelter Erfahrung, hieraus gebildeter und von aussen angeeigneter Wissenschaft verfügt, klug geworden, seinen d. i. seines Leibes und Lebens Nutzen erkannt hat. Und dies ist der Zug, welcher dem Alten eigenthümlich ist, zumal wenn seine Angelegenheiten und Gedanken alle auf bestimmte, einfache Ziele, welche durch Klugheit er- reichbar scheinen, sich concentriren: wie ganz besonders die Vermehrung der Habe oder Erhöhung der Geltung, des Einflusses, der Ehre solche natürliche Ziele sind, als Dinge und Freuden, die unter allen Umständen und allen Menschen willkommen sind, aber ihren ausschliesslichen Werth und Reiz erst gewinnen, wenn sie 1) schon genossen worden sind, also bekannt sind, und 2) nachdem andere, minder besonnene und vernünftige Liebhabereien, die dem jüngeren Menschen »in den Gliedern sitzen«, alle jene Er- scheinungsformen der ursprünglichen, übersprudelnden Irri- tabilität und Lust zu leben, zu kämpfen, zu spielen (wie man sagt) ausgetobt haben, stille geworden sind. So ist das bedeu- tende Wort zu verstehen, welches, auch sonst dieser Be- trachtung vielfach hingegeben, Goethe als ein Motto er- wählte, dass »was man in der Jugend sich wünscht, hat man im Alter die Fülle«, nämlich (so wird diese Idee sich erläutern) die Mittel und Methoden des Glückes; hingegen der wirkliche Genuss desselben und seine innere Bedingung ist die Jugend selber und was ihr angehört, durch keine Künste wiedergewinnbar. § 36. Während nun der Gegensatz der Geschlechter ein beharrender und starrer ist, ebendarum auch nur in seltenen Fällen vollkommen ausgeprägt gefunden wird: so ist der Gegensatz der Lebensalter wohl entschiedener, aber zugleich ganz und gar fliessend und kann nur in Entwicklung beob- achtet werden. Und während jener im vegetativen Leben

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/212>, abgerufen am 19.04.2024.