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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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auch dem anschaulichen, poetischen Natursinne des Jünglings
durchaus innewohnend; dagegen wird ein höheres Mannes-
alter zu selbständigem Zweifel, zu wissenschaftlichem Den-
ken tüchtiger und geneigt; wenn auch der beschauliche
philosophirende Greis zuweilen in die Heiterkeit und das
hingebende Vertrauen der Kindheit zurückkehrt, wo er sein
Herz in Enkeln erneuert findet. Und wie der Greis für
die Jugend, so sind in einem organischen Zusammenleben
Männer für Weiber, also die Wissenden und Weisen für
das Volk, so lange sie ihm nicht als Fremde gegenüber-
stehen, ehrwürdig und bedeutend. Des Greises ist die
Weisheit in Bezug auf die Jugend, des Mannes in Bezug
auf das Weib, und die volksthümlichen Lehrer und Ge-
lehrten wandeln als alte und gescheute Leute zwischen
bäuerlicher Einfalt und Frömmigkeit. So sind denn
alle diese Antithesen nur als mögliche Gegensätze zu
verstehen, welche das Leben ausgleicht, aber das Sterben
entwickelt.

§ 39.

Aus allem diesem gehet hervor, wie der Wesenwille
zu Gemeinschaft prädisponirt, die Willkür Gesellschaft her-
vorbringt. Und folglich ist auch die Sphäre des gemein-
schaftlichen
Lebens und Arbeitens den Frauen vor-
züglich angemessen, ja nothwendig. Ihnen ist das Haus
und nicht der Markt, das eigene oder Freundes Gemach,
und nicht der Salon, die natürliche Stätte. Im Dorfe ist
die Haushaltung selbständig und stark, auch in der Stadt
bleibt sie als bürgerliche Haushaltung erhalten und bildet
sich zur Schönheit aus; aber in der Grosstadt wird sie
steril, eng, nichtig, und geht unter in den Begriff einer
blossen Wohnstätte, dergleichen überall, für beliebige
Fristen, um Geld zu haben ist; nicht anders als eine Her-
berge auf Reisen, in der Welt. Und alles Heimathliche
ist so weiblich als das Reisen unweiblich. "Ein ungewan-
derter Geselle ist so gut als eine gewanderte Jungfrau"
ging einst die Handwerkerrede. "Es ist kein ausgen als
guot, ein innebleiben wer denn besser", dieser Spruch des

auch dem anschaulichen, poetischen Natursinne des Jünglings
durchaus innewohnend; dagegen wird ein höheres Mannes-
alter zu selbständigem Zweifel, zu wissenschaftlichem Den-
ken tüchtiger und geneigt; wenn auch der beschauliche
philosophirende Greis zuweilen in die Heiterkeit und das
hingebende Vertrauen der Kindheit zurückkehrt, wo er sein
Herz in Enkeln erneuert findet. Und wie der Greis für
die Jugend, so sind in einem organischen Zusammenleben
Männer für Weiber, also die Wissenden und Weisen für
das Volk, so lange sie ihm nicht als Fremde gegenüber-
stehen, ehrwürdig und bedeutend. Des Greises ist die
Weisheit in Bezug auf die Jugend, des Mannes in Bezug
auf das Weib, und die volksthümlichen Lehrer und Ge-
lehrten wandeln als alte und gescheute Leute zwischen
bäuerlicher Einfalt und Frömmigkeit. So sind denn
alle diese Antithesen nur als mögliche Gegensätze zu
verstehen, welche das Leben ausgleicht, aber das Sterben
entwickelt.

§ 39.

Aus allem diesem gehet hervor, wie der Wesenwille
zu Gemeinschaft prädisponirt, die Willkür Gesellschaft her-
vorbringt. Und folglich ist auch die Sphäre des gemein-
schaftlichen
Lebens und Arbeitens den Frauen vor-
züglich angemessen, ja nothwendig. Ihnen ist das Haus
und nicht der Markt, das eigene oder Freundes Gemach,
und nicht der Salon, die natürliche Stätte. Im Dorfe ist
die Haushaltung selbständig und stark, auch in der Stadt
bleibt sie als bürgerliche Haushaltung erhalten und bildet
sich zur Schönheit aus; aber in der Grosstadt wird sie
steril, eng, nichtig, und geht unter in den Begriff einer
blossen Wohnstätte, dergleichen überall, für beliebige
Fristen, um Geld zu haben ist; nicht anders als eine Her-
berge auf Reisen, in der Welt. Und alles Heimathliche
ist so weiblich als das Reisen unweiblich. »Ein ungewan-
derter Geselle ist so gut als eine gewanderte Jungfrau«
ging einst die Handwerkerrede. »Es ist kein ûsgên als
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[183/0219] auch dem anschaulichen, poetischen Natursinne des Jünglings durchaus innewohnend; dagegen wird ein höheres Mannes- alter zu selbständigem Zweifel, zu wissenschaftlichem Den- ken tüchtiger und geneigt; wenn auch der beschauliche philosophirende Greis zuweilen in die Heiterkeit und das hingebende Vertrauen der Kindheit zurückkehrt, wo er sein Herz in Enkeln erneuert findet. Und wie der Greis für die Jugend, so sind in einem organischen Zusammenleben Männer für Weiber, also die Wissenden und Weisen für das Volk, so lange sie ihm nicht als Fremde gegenüber- stehen, ehrwürdig und bedeutend. Des Greises ist die Weisheit in Bezug auf die Jugend, des Mannes in Bezug auf das Weib, und die volksthümlichen Lehrer und Ge- lehrten wandeln als alte und gescheute Leute zwischen bäuerlicher Einfalt und Frömmigkeit. So sind denn alle diese Antithesen nur als mögliche Gegensätze zu verstehen, welche das Leben ausgleicht, aber das Sterben entwickelt. § 39. Aus allem diesem gehet hervor, wie der Wesenwille zu Gemeinschaft prädisponirt, die Willkür Gesellschaft her- vorbringt. Und folglich ist auch die Sphäre des gemein- schaftlichen Lebens und Arbeitens den Frauen vor- züglich angemessen, ja nothwendig. Ihnen ist das Haus und nicht der Markt, das eigene oder Freundes Gemach, und nicht der Salon, die natürliche Stätte. Im Dorfe ist die Haushaltung selbständig und stark, auch in der Stadt bleibt sie als bürgerliche Haushaltung erhalten und bildet sich zur Schönheit aus; aber in der Grosstadt wird sie steril, eng, nichtig, und geht unter in den Begriff einer blossen Wohnstätte, dergleichen überall, für beliebige Fristen, um Geld zu haben ist; nicht anders als eine Her- berge auf Reisen, in der Welt. Und alles Heimathliche ist so weiblich als das Reisen unweiblich. »Ein ungewan- derter Geselle ist so gut als eine gewanderte Jungfrau« ging einst die Handwerkerrede. »Es ist kein ûsgên als guot, ein inneblîben wêr denn besser«, dieser Spruch des

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/219>, abgerufen am 24.04.2024.