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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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Gunst ruft den Willen zum Ehren hervor; und indem
dieser vorwiegt, so entsteht aus der Verbindung das Gefühl,
welches wir Ehrfurcht nennen. So stehen sich Zärtlich-
keit und Ehrfurcht oder (in schwächeren Graden): Wohl-
wollen und Achtung gegenüber, als, bei entschiedener
Differenz der Macht, die beiden Grenzbestimmungen der
Gemeinschaft begründenden Gesinnung. So dass durch
solche Motive eine Art des gemeinschaftlichen Verhältnisses
auch zwischen Herrn und Knecht möglich und wahr-
scheinlich wird, zumal wenn dasselbe -- wie in der Regel
und gleich den Banden der engsten Verwandtschaft selber --
durch nahes, dauerndes und abgeschlossenes häusliches
Zusammenleben getragen und gefördert wird.

§ 6.

Denn die Gemeinschaft des Blutes, als Einheit des
Wesens, entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des
Ortes, als welche im Zusammen-Wohnen ihren Ausdruck
hat, und diese wiederum zur Gemeinschaft des Geistes als
dem blossen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen
Richtung, im gleichen Sinne. Gemeinschaft des Ortes kann
als Zusammenhang des animalischen, wie die des Geistes
als Zusammenhang des mentalen Lebens begriffen werden,
die letztere daher, in ihrer Verbindung mit den früheren,
als die eigentlich menschliche und höchste Art der
Gemeinschaft. Wie mit der ersten eine gemeinsame Be-
ziehung und Antheil, d. i. Eigenthum an menschlichen Wesen
selber, so ist desgleichen mit der andern in Bezug auf be-
sessenen Grund und Boden, und mit der letzten in Bezug
auf heilig gehaltene Stätten oder verehrte Gottheiten, regel-
mässig verknüpft. Alle drei Arten der Gemeinschaft hängen
unter sich auf das engste zusammen, so im Raume wie in
der Zeit: daher in allen einzelnen solchen Phänomenen und
deren Entwicklung, wie in der menschlichen Cultur über-
haupt und in ihrer Geschichte. Wo immer Menschen in
organischer Weise durch ihre Willen mit einander verbunden
sind und einander bejahen, da ist Gemeinschaft von der
einen oder der anderen Art vorhanden, indem die frühere
Art die spätere involvirt, oder diese zu einer relativeu Un-

Gunst ruft den Willen zum Ehren hervor; und indem
dieser vorwiegt, so entsteht aus der Verbindung das Gefühl,
welches wir Ehrfurcht nennen. So stehen sich Zärtlich-
keit und Ehrfurcht oder (in schwächeren Graden): Wohl-
wollen und Achtung gegenüber, als, bei entschiedener
Differenz der Macht, die beiden Grenzbestimmungen der
Gemeinschaft begründenden Gesinnung. So dass durch
solche Motive eine Art des gemeinschaftlichen Verhältnisses
auch zwischen Herrn und Knecht möglich und wahr-
scheinlich wird, zumal wenn dasselbe — wie in der Regel
und gleich den Banden der engsten Verwandtschaft selber —
durch nahes, dauerndes und abgeschlossenes häusliches
Zusammenleben getragen und gefördert wird.

§ 6.

Denn die Gemeinschaft des Blutes, als Einheit des
Wesens, entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des
Ortes, als welche im Zusammen-Wohnen ihren Ausdruck
hat, und diese wiederum zur Gemeinschaft des Geistes als
dem blossen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen
Richtung, im gleichen Sinne. Gemeinschaft des Ortes kann
als Zusammenhang des animalischen, wie die des Geistes
als Zusammenhang des mentalen Lebens begriffen werden,
die letztere daher, in ihrer Verbindung mit den früheren,
als die eigentlich menschliche und höchste Art der
Gemeinschaft. Wie mit der ersten eine gemeinsame Be-
ziehung und Antheil, d. i. Eigenthum an menschlichen Wesen
selber, so ist desgleichen mit der andern in Bezug auf be-
sessenen Grund und Boden, und mit der letzten in Bezug
auf heilig gehaltene Stätten oder verehrte Gottheiten, regel-
mässig verknüpft. Alle drei Arten der Gemeinschaft hängen
unter sich auf das engste zusammen, so im Raume wie in
der Zeit: daher in allen einzelnen solchen Phänomenen und
deren Entwicklung, wie in der menschlichen Cultur über-
haupt und in ihrer Geschichte. Wo immer Menschen in
organischer Weise durch ihre Willen mit einander verbunden
sind und einander bejahen, da ist Gemeinschaft von der
einen oder der anderen Art vorhanden, indem die frühere
Art die spätere involvirt, oder diese zu einer relativeu Un-

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[16/0052] Gunst ruft den Willen zum Ehren hervor; und indem dieser vorwiegt, so entsteht aus der Verbindung das Gefühl, welches wir Ehrfurcht nennen. So stehen sich Zärtlich- keit und Ehrfurcht oder (in schwächeren Graden): Wohl- wollen und Achtung gegenüber, als, bei entschiedener Differenz der Macht, die beiden Grenzbestimmungen der Gemeinschaft begründenden Gesinnung. So dass durch solche Motive eine Art des gemeinschaftlichen Verhältnisses auch zwischen Herrn und Knecht möglich und wahr- scheinlich wird, zumal wenn dasselbe — wie in der Regel und gleich den Banden der engsten Verwandtschaft selber — durch nahes, dauerndes und abgeschlossenes häusliches Zusammenleben getragen und gefördert wird. § 6. Denn die Gemeinschaft des Blutes, als Einheit des Wesens, entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des Ortes, als welche im Zusammen-Wohnen ihren Ausdruck hat, und diese wiederum zur Gemeinschaft des Geistes als dem blossen Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen Richtung, im gleichen Sinne. Gemeinschaft des Ortes kann als Zusammenhang des animalischen, wie die des Geistes als Zusammenhang des mentalen Lebens begriffen werden, die letztere daher, in ihrer Verbindung mit den früheren, als die eigentlich menschliche und höchste Art der Gemeinschaft. Wie mit der ersten eine gemeinsame Be- ziehung und Antheil, d. i. Eigenthum an menschlichen Wesen selber, so ist desgleichen mit der andern in Bezug auf be- sessenen Grund und Boden, und mit der letzten in Bezug auf heilig gehaltene Stätten oder verehrte Gottheiten, regel- mässig verknüpft. Alle drei Arten der Gemeinschaft hängen unter sich auf das engste zusammen, so im Raume wie in der Zeit: daher in allen einzelnen solchen Phänomenen und deren Entwicklung, wie in der menschlichen Cultur über- haupt und in ihrer Geschichte. Wo immer Menschen in organischer Weise durch ihre Willen mit einander verbunden sind und einander bejahen, da ist Gemeinschaft von der einen oder der anderen Art vorhanden, indem die frühere Art die spätere involvirt, oder diese zu einer relativeu Un-

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/52>, abgerufen am 16.04.2024.