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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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sich leicht an einander; reden und denken oft und gern
mit, zu, an einander. Ebenso vergleichungsweise Nachbarn
und andere Freunde. 2) Zwischen Liebenden u. s. w. ist
Verständniss. 3) Die Liebenden und Sich-Verstehenden
bleiben und wohnen zusammen, und ordnen ihr gemein-
sames Leben. -- Eine Gesammtform des gemeinschaftlichen
bestimmenden Willens, welche so natürlich geworden ist
wie Sprache selber, daher ein Vielfaches von Verständnissen
in sich begreift und das Mass derselben abgibt durch ihre
Normen, nenne ich Eintracht oder Familien-Geist (con-
cordia
, als eine herzliche Verbundenheit und Einigkeit).
Verständniss und Eintracht ist also Eines und dasselbe:
gemeinschaftlicher Wille in seinen elementaren Formen: als
Verständniss in seinen einzelnen Beziehungen und Wir-
kungen, als Eintracht in seiner gesammten Kraft und
Natur betrachtet.

§ 10.

Verständniss ist demnach der einfachste Ausdruck
für das innere Wesen und die Wahrheit alles echten Zu-
sammenlebens, Zusammenwohnens und Wirkens. Daher in
erster und allgemeinster Bedeutung: des häuslichen Lebens;
und da den Kern desselben die Verbindung und Einheit
von Mann und Weib zur Erzeugung und Erziehung von
Nachkommen darstellt, insonderheit der Ehe als dieser natür-
lichen Thatsache. Das stillschweigende Ein-verständniss,
wie wir es auch heissen mögen, über Pflichten und Gerecht-
same, über Gutes und Böses, kann wohl einer Verabredung,
einem Vertrage verglichen werden; aber nur, um sogleich
den Contrast desto energischer hervorzuheben. Denn so
kann man auch sagen: der Sinn von Worten sei gleich
demjenigen verabredeter, willkürlicher Zeichen; und ist
gleichwohl das Gegentheil. Verabredung und Vertrag ist
Einigung, welche gemacht, beschlossen wird; ausgetauschtes
Ver-sprechen, also Sprache voraussetzend und gegenseitige
Auffassung und Annahme dargebotener zukünftiger Hand-
lungen, welche in deutlichen Begriffen ausgedrückt werden
müssen. Diese Einigung kann auch unterstellt werden, als
ob
sie geschehen sei, wenn die Wirkung von solcher Art

sich leicht an einander; reden und denken oft und gern
mit, zu, an einander. Ebenso vergleichungsweise Nachbarn
und andere Freunde. 2) Zwischen Liebenden u. s. w. ist
Verständniss. 3) Die Liebenden und Sich-Verstehenden
bleiben und wohnen zusammen, und ordnen ihr gemein-
sames Leben. — Eine Gesammtform des gemeinschaftlichen
bestimmenden Willens, welche so natürlich geworden ist
wie Sprache selber, daher ein Vielfaches von Verständnissen
in sich begreift und das Mass derselben abgibt durch ihre
Normen, nenne ich Eintracht oder Familien-Geist (con-
cordia
, als eine herzliche Verbundenheit und Einigkeit).
Verständniss und Eintracht ist also Eines und dasselbe:
gemeinschaftlicher Wille in seinen elementaren Formen: als
Verständniss in seinen einzelnen Beziehungen und Wir-
kungen, als Eintracht in seiner gesammten Kraft und
Natur betrachtet.

§ 10.

Verständniss ist demnach der einfachste Ausdruck
für das innere Wesen und die Wahrheit alles echten Zu-
sammenlebens, Zusammenwohnens und Wirkens. Daher in
erster und allgemeinster Bedeutung: des häuslichen Lebens;
und da den Kern desselben die Verbindung und Einheit
von Mann und Weib zur Erzeugung und Erziehung von
Nachkommen darstellt, insonderheit der Ehe als dieser natür-
lichen Thatsache. Das stillschweigende Ein-verständniss,
wie wir es auch heissen mögen, über Pflichten und Gerecht-
same, über Gutes und Böses, kann wohl einer Verabredung,
einem Vertrage verglichen werden; aber nur, um sogleich
den Contrast desto energischer hervorzuheben. Denn so
kann man auch sagen: der Sinn von Worten sei gleich
demjenigen verabredeter, willkürlicher Zeichen; und ist
gleichwohl das Gegentheil. Verabredung und Vertrag ist
Einigung, welche gemacht, beschlossen wird; ausgetauschtes
Ver-sprechen, also Sprache voraussetzend und gegenseitige
Auffassung und Annahme dargebotener zukünftiger Hand-
lungen, welche in deutlichen Begriffen ausgedrückt werden
müssen. Diese Einigung kann auch unterstellt werden, als
ob
sie geschehen sei, wenn die Wirkung von solcher Art

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[25/0061] sich leicht an einander; reden und denken oft und gern mit, zu, an einander. Ebenso vergleichungsweise Nachbarn und andere Freunde. 2) Zwischen Liebenden u. s. w. ist Verständniss. 3) Die Liebenden und Sich-Verstehenden bleiben und wohnen zusammen, und ordnen ihr gemein- sames Leben. — Eine Gesammtform des gemeinschaftlichen bestimmenden Willens, welche so natürlich geworden ist wie Sprache selber, daher ein Vielfaches von Verständnissen in sich begreift und das Mass derselben abgibt durch ihre Normen, nenne ich Eintracht oder Familien-Geist (con- cordia, als eine herzliche Verbundenheit und Einigkeit). Verständniss und Eintracht ist also Eines und dasselbe: gemeinschaftlicher Wille in seinen elementaren Formen: als Verständniss in seinen einzelnen Beziehungen und Wir- kungen, als Eintracht in seiner gesammten Kraft und Natur betrachtet. § 10. Verständniss ist demnach der einfachste Ausdruck für das innere Wesen und die Wahrheit alles echten Zu- sammenlebens, Zusammenwohnens und Wirkens. Daher in erster und allgemeinster Bedeutung: des häuslichen Lebens; und da den Kern desselben die Verbindung und Einheit von Mann und Weib zur Erzeugung und Erziehung von Nachkommen darstellt, insonderheit der Ehe als dieser natür- lichen Thatsache. Das stillschweigende Ein-verständniss, wie wir es auch heissen mögen, über Pflichten und Gerecht- same, über Gutes und Böses, kann wohl einer Verabredung, einem Vertrage verglichen werden; aber nur, um sogleich den Contrast desto energischer hervorzuheben. Denn so kann man auch sagen: der Sinn von Worten sei gleich demjenigen verabredeter, willkürlicher Zeichen; und ist gleichwohl das Gegentheil. Verabredung und Vertrag ist Einigung, welche gemacht, beschlossen wird; ausgetauschtes Ver-sprechen, also Sprache voraussetzend und gegenseitige Auffassung und Annahme dargebotener zukünftiger Hand- lungen, welche in deutlichen Begriffen ausgedrückt werden müssen. Diese Einigung kann auch unterstellt werden, als ob sie geschehen sei, wenn die Wirkung von solcher Art

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/61>, abgerufen am 29.03.2024.