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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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§ 5.

Die allgemeinste Eintheilung thierischer Organe und
Functionen unterscheidet diejenigen des vegetativen (inneren)
und die des animalischen (äusseren) Lebens. Ebenso aber
ist zureichender Grund vorhanden, einen vegetativen und
animalischen Willen zu setzen, welche beide (wie die
physischen Structuren im Leibe) im Thierwillen verbunden
und einander bestimmend gedacht werden müssen. Solche
Verbindung erscheint aber in den besonderen Eigenschaften
und Thätigkeiten des Menschen so eigenthümlich und
bedeutend, dass -- für die psychologische Ansicht -- es
nothwendig ist, den humanen oder mentalen Willen (und
diese Artung des Lebens) vom animalischen und vegetativen
in derselben Weise zu unterscheiden wie diese von ein-
ander, und die drei Naturen in der menschlichen vereinigt
zu denken, gleichwie die beiden in der allgemein-thierischen
Constitution. Die Thätigkeiten des vegetativen oder orga-
nischen Willens sind durch empfangene oder empfundene
Reize überhaupt (stoffliche Reize), die des animalischen
Willens durch Wahrnehmungen oder Bild-Empfindungen
(sensitive oder Bewegungs-Reize), die des mentalen Willens
durch Gedanken oder Wort-Empfindungen (intellective oder
geistige Reize, welche nach ihrem stofflichen oder Bewe-
gungs-Werth nicht mehr schätzbar sind) bedingt. Das
vegetative Leben, welches allem übrigen zum Grunde liegt
und sich selber als substantiell beharrend setzt, alle beson-
deren Thätigkeiten aber als seine Modificationen und Aus-
drücke, besteht ganz und gar in Erhaltung, Accumulation
und Reproduction seiner und ihm gemässer Kraft und Form
als der Verhältnisse zwischen wechselnden Theilen; es ist
Dasein und Wirkung in Bezug auf sich selber: als Assimi-
lirung von Stoffen, Circulation der Nahrungssäfte, Erhaltung
und Erneuerung der Organe. Das animalische Leben ist
hauptsächlich die hierfür nothwendig und natürlich gewor-
dene äussere Bewegung als Ausgabe von Kraft in Bezug
auf andere Dinge oder Wesen: Innervation und Contrac-
tion der Muskelgewebe zur locomotorischen Veränderung
des ganzen Leibes oder seiner Glieder. Das mentale Leben
ist ausgezeichnet als Mittheilung, d. i. Wirkung auf gleich-

§ 5.

Die allgemeinste Eintheilung thierischer Organe und
Functionen unterscheidet diejenigen des vegetativen (inneren)
und die des animalischen (äusseren) Lebens. Ebenso aber
ist zureichender Grund vorhanden, einen vegetativen und
animalischen Willen zu setzen, welche beide (wie die
physischen Structuren im Leibe) im Thierwillen verbunden
und einander bestimmend gedacht werden müssen. Solche
Verbindung erscheint aber in den besonderen Eigenschaften
und Thätigkeiten des Menschen so eigenthümlich und
bedeutend, dass — für die psychologische Ansicht — es
nothwendig ist, den humanen oder mentalen Willen (und
diese Artung des Lebens) vom animalischen und vegetativen
in derselben Weise zu unterscheiden wie diese von ein-
ander, und die drei Naturen in der menschlichen vereinigt
zu denken, gleichwie die beiden in der allgemein-thierischen
Constitution. Die Thätigkeiten des vegetativen oder orga-
nischen Willens sind durch empfangene oder empfundene
Reize überhaupt (stoffliche Reize), die des animalischen
Willens durch Wahrnehmungen oder Bild-Empfindungen
(sensitive oder Bewegungs-Reize), die des mentalen Willens
durch Gedanken oder Wort-Empfindungen (intellective oder
geistige Reize, welche nach ihrem stofflichen oder Bewe-
gungs-Werth nicht mehr schätzbar sind) bedingt. Das
vegetative Leben, welches allem übrigen zum Grunde liegt
und sich selber als substantiell beharrend setzt, alle beson-
deren Thätigkeiten aber als seine Modificationen und Aus-
drücke, besteht ganz und gar in Erhaltung, Accumulation
und Reproduction seiner und ihm gemässer Kraft und Form
als der Verhältnisse zwischen wechselnden Theilen; es ist
Dasein und Wirkung in Bezug auf sich selber: als Assimi-
lirung von Stoffen, Circulation der Nahrungssäfte, Erhaltung
und Erneuerung der Organe. Das animalische Leben ist
hauptsächlich die hierfür nothwendig und natürlich gewor-
dene äussere Bewegung als Ausgabe von Kraft in Bezug
auf andere Dinge oder Wesen: Innervation und Contrac-
tion der Muskelgewebe zur locomotorischen Veränderung
des ganzen Leibes oder seiner Glieder. Das mentale Leben
ist ausgezeichnet als Mittheilung, d. i. Wirkung auf gleich-

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[104/0140] § 5. Die allgemeinste Eintheilung thierischer Organe und Functionen unterscheidet diejenigen des vegetativen (inneren) und die des animalischen (äusseren) Lebens. Ebenso aber ist zureichender Grund vorhanden, einen vegetativen und animalischen Willen zu setzen, welche beide (wie die physischen Structuren im Leibe) im Thierwillen verbunden und einander bestimmend gedacht werden müssen. Solche Verbindung erscheint aber in den besonderen Eigenschaften und Thätigkeiten des Menschen so eigenthümlich und bedeutend, dass — für die psychologische Ansicht — es nothwendig ist, den humanen oder mentalen Willen (und diese Artung des Lebens) vom animalischen und vegetativen in derselben Weise zu unterscheiden wie diese von ein- ander, und die drei Naturen in der menschlichen vereinigt zu denken, gleichwie die beiden in der allgemein-thierischen Constitution. Die Thätigkeiten des vegetativen oder orga- nischen Willens sind durch empfangene oder empfundene Reize überhaupt (stoffliche Reize), die des animalischen Willens durch Wahrnehmungen oder Bild-Empfindungen (sensitive oder Bewegungs-Reize), die des mentalen Willens durch Gedanken oder Wort-Empfindungen (intellective oder geistige Reize, welche nach ihrem stofflichen oder Bewe- gungs-Werth nicht mehr schätzbar sind) bedingt. Das vegetative Leben, welches allem übrigen zum Grunde liegt und sich selber als substantiell beharrend setzt, alle beson- deren Thätigkeiten aber als seine Modificationen und Aus- drücke, besteht ganz und gar in Erhaltung, Accumulation und Reproduction seiner und ihm gemässer Kraft und Form als der Verhältnisse zwischen wechselnden Theilen; es ist Dasein und Wirkung in Bezug auf sich selber: als Assimi- lirung von Stoffen, Circulation der Nahrungssäfte, Erhaltung und Erneuerung der Organe. Das animalische Leben ist hauptsächlich die hierfür nothwendig und natürlich gewor- dene äussere Bewegung als Ausgabe von Kraft in Bezug auf andere Dinge oder Wesen: Innervation und Contrac- tion der Muskelgewebe zur locomotorischen Veränderung des ganzen Leibes oder seiner Glieder. Das mentale Leben ist ausgezeichnet als Mittheilung, d. i. Wirkung auf gleich-

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/140>, abgerufen am 28.03.2024.