Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

begriffen. Nun aber darf man auch, aus dem Gesichts-
punkte der originalen Gleichheit desselben mit allem orga-
nischen Leben, füglich sagen, dass die eigentliche Natur
des Willens überhaupt sich am deutlichsten als Gedächtniss
offenbart oder als die Verbundenheit von Ideen (denn als
solche gelangen die Empfindungen oder Erfahrungen zu
einer vergleichungsweise gesonderten Existenz). In der
That hat man in neuerer Zeit oft vom Gedächtniss als
einer allgemeinen Eigenschaft und Fähigkeit der organischen
Materie gesprochen (Hering, Haeckel, S. Butler) und als
ererbte Gedächtnisse die thierischen Instincte zu erklären
versucht. Dieselben können aber ebenso allgemein als Ge-
wohnheiten verstanden werden und sind nichts Anderes,
wenn sie in Relation zu der Art anstatt in Relation zum
Individuum betrachtet werden; indem die organischen Ur-
triebe -- welche nicht ferner zurückführbar sind -- solche
Fähigkeiten und Neigungen in sich aufgenommen haben
und als immer stärkere und immer inniger mit ihnen ver-
bundene Keime über das individuelle Leben hinaus fortzu-
setzen tendiren. Und in ähnlicher Weise verhalten sich
Gewohnheit und Gedächtniss: der spätere Begriff löst sich
von dem früheren ab, tendirt aber zugleich als eine immer
stärkere Potenz in jenen zurückzusinken. In diesem Sinne
haben englische Psychologen (Lewes, Romanes) das Theorem
der lapsing intelligence ausgebildet, als Formel für die be-
kannte Erscheinung, dass sogen. willkürliche, d. i. unter
Mitwirkung des Denkens oder -- bei Thieren -- bestimmter
Wahrnehmungs- oder Vorstellungsacte geschehende Hand-
lungen unwillkürlich oder unbewusst werden, d. i. eines
immer geringeren oder allgemeineren Reizes bedürfen, um
hervorzutreten; ein Process, dessen allgemeiner Inhalt die
Verwachsung von intellectuellen Thätigkeiten mit kine-
tischen Impulsen überhaupt bedeutet; wobei aber zu ge-
denken ist, dass sowohl jede Art von Empfang als jede
Art von Ausgabe nur durch ihre gemeinsame Abstam-
mung aus der Einheit des Organismus erklärbar sind, daher
die Möglichkeit ihrer Verbindung als ein Keim darin ent-
halten sein muss. Wenn Gedächtniss nach der gewöhn-
lichen Wortbedeutung die Fähigkeit ist, Eindrücke zu

begriffen. Nun aber darf man auch, aus dem Gesichts-
punkte der originalen Gleichheit desselben mit allem orga-
nischen Leben, füglich sagen, dass die eigentliche Natur
des Willens überhaupt sich am deutlichsten als Gedächtniss
offenbart oder als die Verbundenheit von Ideen (denn als
solche gelangen die Empfindungen oder Erfahrungen zu
einer vergleichungsweise gesonderten Existenz). In der
That hat man in neuerer Zeit oft vom Gedächtniss als
einer allgemeinen Eigenschaft und Fähigkeit der organischen
Materie gesprochen (Hering, Haeckel, S. Butler) und als
ererbte Gedächtnisse die thierischen Instincte zu erklären
versucht. Dieselben können aber ebenso allgemein als Ge-
wohnheiten verstanden werden und sind nichts Anderes,
wenn sie in Relation zu der Art anstatt in Relation zum
Individuum betrachtet werden; indem die organischen Ur-
triebe — welche nicht ferner zurückführbar sind — solche
Fähigkeiten und Neigungen in sich aufgenommen haben
und als immer stärkere und immer inniger mit ihnen ver-
bundene Keime über das individuelle Leben hinaus fortzu-
setzen tendiren. Und in ähnlicher Weise verhalten sich
Gewohnheit und Gedächtniss: der spätere Begriff löst sich
von dem früheren ab, tendirt aber zugleich als eine immer
stärkere Potenz in jenen zurückzusinken. In diesem Sinne
haben englische Psychologen (Lewes, Romanes) das Theorem
der lapsing intelligence ausgebildet, als Formel für die be-
kannte Erscheinung, dass sogen. willkürliche, d. i. unter
Mitwirkung des Denkens oder — bei Thieren — bestimmter
Wahrnehmungs- oder Vorstellungsacte geschehende Hand-
lungen unwillkürlich oder unbewusst werden, d. i. eines
immer geringeren oder allgemeineren Reizes bedürfen, um
hervorzutreten; ein Process, dessen allgemeiner Inhalt die
Verwachsung von intellectuellen Thätigkeiten mit kine-
tischen Impulsen überhaupt bedeutet; wobei aber zu ge-
denken ist, dass sowohl jede Art von Empfang als jede
Art von Ausgabe nur durch ihre gemeinsame Abstam-
mung aus der Einheit des Organismus erklärbar sind, daher
die Möglichkeit ihrer Verbindung als ein Keim darin ent-
halten sein muss. Wenn Gedächtniss nach der gewöhn-
lichen Wortbedeutung die Fähigkeit ist, Eindrücke zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0148" n="112"/>
begriffen. Nun aber darf man auch, aus dem Gesichts-<lb/>
punkte der originalen Gleichheit desselben mit allem orga-<lb/>
nischen Leben, füglich sagen, dass die eigentliche Natur<lb/>
des Willens überhaupt sich am deutlichsten als Gedächtniss<lb/>
offenbart oder als die Verbundenheit von Ideen (denn als<lb/>
solche gelangen die Empfindungen oder Erfahrungen zu<lb/>
einer vergleichungsweise gesonderten Existenz). In der<lb/>
That hat man in neuerer Zeit oft vom Gedächtniss als<lb/>
einer allgemeinen Eigenschaft und Fähigkeit der organischen<lb/>
Materie gesprochen (<hi rendition="#k">Hering, Haeckel, S. Butler</hi>) und als<lb/>
ererbte Gedächtnisse die thierischen Instincte zu erklären<lb/>
versucht. Dieselben können aber ebenso allgemein als Ge-<lb/>
wohnheiten verstanden werden und sind nichts Anderes,<lb/>
wenn sie in Relation zu der Art anstatt in Relation zum<lb/>
Individuum betrachtet werden; indem die organischen Ur-<lb/>
triebe &#x2014; welche nicht ferner zurückführbar sind &#x2014; solche<lb/>
Fähigkeiten und Neigungen in sich aufgenommen haben<lb/>
und als immer stärkere und immer inniger mit ihnen ver-<lb/>
bundene Keime über das individuelle Leben hinaus fortzu-<lb/>
setzen tendiren. Und in ähnlicher Weise verhalten sich<lb/>
Gewohnheit und Gedächtniss: der spätere Begriff löst sich<lb/>
von dem früheren ab, tendirt aber zugleich als eine immer<lb/>
stärkere Potenz in jenen zurückzusinken. In diesem Sinne<lb/>
haben englische Psychologen (<hi rendition="#k">Lewes, Romanes</hi>) das Theorem<lb/>
der <hi rendition="#i">lapsing intelligence</hi> ausgebildet, als Formel für die be-<lb/>
kannte Erscheinung, dass sogen. willkürliche, d. i. unter<lb/>
Mitwirkung des Denkens oder &#x2014; bei Thieren &#x2014; bestimmter<lb/>
Wahrnehmungs- oder Vorstellungsacte geschehende Hand-<lb/>
lungen unwillkürlich oder unbewusst werden, d. i. eines<lb/>
immer geringeren oder allgemeineren Reizes bedürfen, um<lb/>
hervorzutreten; ein Process, dessen allgemeiner Inhalt die<lb/>
Verwachsung von intellectuellen Thätigkeiten mit kine-<lb/>
tischen Impulsen überhaupt bedeutet; wobei aber zu ge-<lb/>
denken ist, dass sowohl jede Art von Empfang als jede<lb/>
Art von Ausgabe nur durch ihre gemeinsame Abstam-<lb/>
mung aus der Einheit des Organismus erklärbar sind, daher<lb/>
die Möglichkeit ihrer Verbindung als ein Keim darin ent-<lb/>
halten sein muss. Wenn Gedächtniss nach der gewöhn-<lb/>
lichen Wortbedeutung die Fähigkeit ist, Eindrücke zu<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[112/0148] begriffen. Nun aber darf man auch, aus dem Gesichts- punkte der originalen Gleichheit desselben mit allem orga- nischen Leben, füglich sagen, dass die eigentliche Natur des Willens überhaupt sich am deutlichsten als Gedächtniss offenbart oder als die Verbundenheit von Ideen (denn als solche gelangen die Empfindungen oder Erfahrungen zu einer vergleichungsweise gesonderten Existenz). In der That hat man in neuerer Zeit oft vom Gedächtniss als einer allgemeinen Eigenschaft und Fähigkeit der organischen Materie gesprochen (Hering, Haeckel, S. Butler) und als ererbte Gedächtnisse die thierischen Instincte zu erklären versucht. Dieselben können aber ebenso allgemein als Ge- wohnheiten verstanden werden und sind nichts Anderes, wenn sie in Relation zu der Art anstatt in Relation zum Individuum betrachtet werden; indem die organischen Ur- triebe — welche nicht ferner zurückführbar sind — solche Fähigkeiten und Neigungen in sich aufgenommen haben und als immer stärkere und immer inniger mit ihnen ver- bundene Keime über das individuelle Leben hinaus fortzu- setzen tendiren. Und in ähnlicher Weise verhalten sich Gewohnheit und Gedächtniss: der spätere Begriff löst sich von dem früheren ab, tendirt aber zugleich als eine immer stärkere Potenz in jenen zurückzusinken. In diesem Sinne haben englische Psychologen (Lewes, Romanes) das Theorem der lapsing intelligence ausgebildet, als Formel für die be- kannte Erscheinung, dass sogen. willkürliche, d. i. unter Mitwirkung des Denkens oder — bei Thieren — bestimmter Wahrnehmungs- oder Vorstellungsacte geschehende Hand- lungen unwillkürlich oder unbewusst werden, d. i. eines immer geringeren oder allgemeineren Reizes bedürfen, um hervorzutreten; ein Process, dessen allgemeiner Inhalt die Verwachsung von intellectuellen Thätigkeiten mit kine- tischen Impulsen überhaupt bedeutet; wobei aber zu ge- denken ist, dass sowohl jede Art von Empfang als jede Art von Ausgabe nur durch ihre gemeinsame Abstam- mung aus der Einheit des Organismus erklärbar sind, daher die Möglichkeit ihrer Verbindung als ein Keim darin ent- halten sein muss. Wenn Gedächtniss nach der gewöhn- lichen Wortbedeutung die Fähigkeit ist, Eindrücke zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/148
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/148>, abgerufen am 19.04.2024.