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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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schluss des Geistes, welcher für frei gehalten wird, von der
Imagination selber oder dem Gedächtniss nicht sich unter-
scheidet und nichts Anderes ist ausser jener Bejahung,
welche die Idee, insofern als sie Idee ist, involvirt. Und
ferner entstehen diese Beschlüsse des Geistes mit derselben
Nothwendigkeit im Geiste, als die Ideen der in Wirklichkeit
existirenden Dinge. Die also glauben, dass sie aus freiem
Beschlusse des Geistes reden oder schweigen oder irgend
etwas thun, sind Träumer mit offenen Augen."

Wir aber glauben freilich, [ - 2 Zeichen fehlen]ese Wahrheit in noch
genauere Darstellung fassen zu können, wenn von den Ge-
stalten der Willkür zu reden sein wird.

§ 9.

Hier aber wird zuvörderst die bisherige Ansicht in
einigen allgemeinen Betrachtungen zusammengefasst und zu
Bestimmungen fernerer Begriffe erweitert. A) Alle speci-
fisch menschlichen, also die bewussten und gewöhnlich will-
kürlich genannten Thätigkeiten sind abzuleiten, sofern sie
dem Wesenwillen angehören, aus den Eigenschaften des-
selben und aus seinem jedesmaligen Erregungszustande.
Dieser ist, was wir als Stimmung, oder als Affect, oder
auch als bestimmende Vorstellung, Meinung, Wahn ver-
stehen müssen; ganz allgemein aber als Gefühl bezeichnen,
welches zugleich die Richtung oder die Art und Weise an-
zugeben scheint; man thut wie einem zu Muthe ist, wie
man es gewohnt ist, endlich wie es einem gut dünkt. In
jedem Falle ist ein gewisser Vorrath von Nervenkraft im
Gehirn vorhanden, welcher seinen Weg in die Muskeln
nimmt, soweit er nicht im Gehirn selber sich entladen
kann; hierin wird er aber theils durch die gegebenen äusse-
ren Reize, theils durch den Zusammenhang des Organismus
(des Nervensystemes) bestimmt, in welchem die geübten
Bahnen diejenigen sind, welche das geringste Kraftmaass
erfordern. Alle diese Thätigkeiten, als Ausgabe und Ver-
wendung von Kraft, sind also bedingt durch vorherige oder
gleichzeitige, specifische Einnahme von Kraft, welche selber
nicht anders als durch Arbeit, wenn auch gleichsam auf
ererbtem Grund und Boden geschehende, vor sich gehen

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schluss des Geistes, welcher für frei gehalten wird, von der
Imagination selber oder dem Gedächtniss nicht sich unter-
scheidet und nichts Anderes ist ausser jener Bejahung,
welche die Idee, insofern als sie Idee ist, involvirt. Und
ferner entstehen diese Beschlüsse des Geistes mit derselben
Nothwendigkeit im Geiste, als die Ideen der in Wirklichkeit
existirenden Dinge. Die also glauben, dass sie aus freiem
Beschlusse des Geistes reden oder schweigen oder irgend
etwas thun, sind Träumer mit offenen Augen.«

Wir aber glauben freilich, [ – 2 Zeichen fehlen]ese Wahrheit in noch
genauere Darstellung fassen zu können, wenn von den Ge-
stalten der Willkür zu reden sein wird.

§ 9.

Hier aber wird zuvörderst die bisherige Ansicht in
einigen allgemeinen Betrachtungen zusammengefasst und zu
Bestimmungen fernerer Begriffe erweitert. A) Alle speci-
fisch menschlichen, also die bewussten und gewöhnlich will-
kürlich genannten Thätigkeiten sind abzuleiten, sofern sie
dem Wesenwillen angehören, aus den Eigenschaften des-
selben und aus seinem jedesmaligen Erregungszustande.
Dieser ist, was wir als Stimmung, oder als Affect, oder
auch als bestimmende Vorstellung, Meinung, Wahn ver-
stehen müssen; ganz allgemein aber als Gefühl bezeichnen,
welches zugleich die Richtung oder die Art und Weise an-
zugeben scheint; man thut wie einem zu Muthe ist, wie
man es gewohnt ist, endlich wie es einem gut dünkt. In
jedem Falle ist ein gewisser Vorrath von Nervenkraft im
Gehirn vorhanden, welcher seinen Weg in die Muskeln
nimmt, soweit er nicht im Gehirn selber sich entladen
kann; hierin wird er aber theils durch die gegebenen äusse-
ren Reize, theils durch den Zusammenhang des Organismus
(des Nervensystemes) bestimmt, in welchem die geübten
Bahnen diejenigen sind, welche das geringste Kraftmaass
erfordern. Alle diese Thätigkeiten, als Ausgabe und Ver-
wendung von Kraft, sind also bedingt durch vorherige oder
gleichzeitige, specifische Einnahme von Kraft, welche selber
nicht anders als durch Arbeit, wenn auch gleichsam auf
ererbtem Grund und Boden geschehende, vor sich gehen

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[115/0151] schluss des Geistes, welcher für frei gehalten wird, von der Imagination selber oder dem Gedächtniss nicht sich unter- scheidet und nichts Anderes ist ausser jener Bejahung, welche die Idee, insofern als sie Idee ist, involvirt. Und ferner entstehen diese Beschlüsse des Geistes mit derselben Nothwendigkeit im Geiste, als die Ideen der in Wirklichkeit existirenden Dinge. Die also glauben, dass sie aus freiem Beschlusse des Geistes reden oder schweigen oder irgend etwas thun, sind Träumer mit offenen Augen.« Wir aber glauben freilich, __ese Wahrheit in noch genauere Darstellung fassen zu können, wenn von den Ge- stalten der Willkür zu reden sein wird. § 9. Hier aber wird zuvörderst die bisherige Ansicht in einigen allgemeinen Betrachtungen zusammengefasst und zu Bestimmungen fernerer Begriffe erweitert. A) Alle speci- fisch menschlichen, also die bewussten und gewöhnlich will- kürlich genannten Thätigkeiten sind abzuleiten, sofern sie dem Wesenwillen angehören, aus den Eigenschaften des- selben und aus seinem jedesmaligen Erregungszustande. Dieser ist, was wir als Stimmung, oder als Affect, oder auch als bestimmende Vorstellung, Meinung, Wahn ver- stehen müssen; ganz allgemein aber als Gefühl bezeichnen, welches zugleich die Richtung oder die Art und Weise an- zugeben scheint; man thut wie einem zu Muthe ist, wie man es gewohnt ist, endlich wie es einem gut dünkt. In jedem Falle ist ein gewisser Vorrath von Nervenkraft im Gehirn vorhanden, welcher seinen Weg in die Muskeln nimmt, soweit er nicht im Gehirn selber sich entladen kann; hierin wird er aber theils durch die gegebenen äusse- ren Reize, theils durch den Zusammenhang des Organismus (des Nervensystemes) bestimmt, in welchem die geübten Bahnen diejenigen sind, welche das geringste Kraftmaass erfordern. Alle diese Thätigkeiten, als Ausgabe und Ver- wendung von Kraft, sind also bedingt durch vorherige oder gleichzeitige, specifische Einnahme von Kraft, welche selber nicht anders als durch Arbeit, wenn auch gleichsam auf ererbtem Grund und Boden geschehende, vor sich gehen 8*

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/151>, abgerufen am 23.04.2024.