Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

Ueberschuss von Lust, welcher unbedingter Weise willkommen
ist, wird selbständig. Dasselbe Verhältniss findet statt,
wenn eine Lust aufgegeben wird um einer anderen willen,
oder ein Schmerz übernommen, um zukünftigen zu ver-
meiden. Das Wesentliche ist die Opposition. Denn durch
Thätigkeit des Denkens in Bezug auf ein vorzunehmendes
Werk geschieht die scharfe Trennung von Zweck und
Mittel, welche durch ihren Gegensatz vollkommen und deut-
lich wird, wo das Eine die Verneinung des Anderen ist,
nämlich der Zweck das Gute oder die Lust, das Mittel ein
Uebel oder der Schmerz. Keines von beiden wird als
solches gefühlt, indem sie Objecte des Denkens sind; aber
sie werden als Gegensätze gedacht, als Begriffe die nichts
mit einander gemein haben, ausser der Scala in welche sie
zusammengebracht worden sind. Indem Eines sich als die
Ursache des Anderen setzt, so setzt es sich als noth-
wendig in Bezug darauf, um gewollt zu werden, sobald die
gewollte Lust gross genug scheint, ein solches "Opfer" auf-
zuwiegen. Ursache und Wirkung werden daher nach ihrem
"Werthe" verglichen; sie müssen commensurabel sein,
also in ihre Elemente aufgelöst und auf Maas-Einheiten
reducirt werden, welche beiden Grössen gemeinsam sind.
Daher verschwinden hier alle Qualitäten von Lust und
Schmerz als irreal und imaginär: sie müssen sich in lauter
quantitative Unterschiede verwandeln, so dass im Normal-
falle ein Quantum Lust und ein Quantum Schmerz gleich
und entgegengesetzt sind. -- Die andere Form der Willkür,
in welcher sie b) auf bestimmte einzelne Handlungen ge-
richtet ist, nenne ich Belieben oder Beschluss. Ein
solches geht aus von einem fertigen über seine Möglich-
keiten denkenden Ich, welches in Bezug auf ihm feststehen-
den Zweck eine dauernde Existenz hat, wenn auch dieser
Zweck nur um vieler anderen Zwecke willen vorhanden
ist, welche ihn als ihren Vereinigungspunkt gesetzt haben.
Nun müssen sich vielmehr nach ihm alle richten innerhalb
seines Bereiches, und während die ursprünglichen Zwecke
alle aus der gemeinsamen Masse der intellectuellen Erfahrung
-- nämlich als Erinnerungen und Kenntnisse angenehmer
Empfindungen und Dinge -- sich herleiten, so ist in ihm

Ueberschuss von Lust, welcher unbedingter Weise willkommen
ist, wird selbständig. Dasselbe Verhältniss findet statt,
wenn eine Lust aufgegeben wird um einer anderen willen,
oder ein Schmerz übernommen, um zukünftigen zu ver-
meiden. Das Wesentliche ist die Opposition. Denn durch
Thätigkeit des Denkens in Bezug auf ein vorzunehmendes
Werk geschieht die scharfe Trennung von Zweck und
Mittel, welche durch ihren Gegensatz vollkommen und deut-
lich wird, wo das Eine die Verneinung des Anderen ist,
nämlich der Zweck das Gute oder die Lust, das Mittel ein
Uebel oder der Schmerz. Keines von beiden wird als
solches gefühlt, indem sie Objecte des Denkens sind; aber
sie werden als Gegensätze gedacht, als Begriffe die nichts
mit einander gemein haben, ausser der Scala in welche sie
zusammengebracht worden sind. Indem Eines sich als die
Ursache des Anderen setzt, so setzt es sich als noth-
wendig in Bezug darauf, um gewollt zu werden, sobald die
gewollte Lust gross genug scheint, ein solches »Opfer« auf-
zuwiegen. Ursache und Wirkung werden daher nach ihrem
»Werthe« verglichen; sie müssen commensurabel sein,
also in ihre Elemente aufgelöst und auf Maas-Einheiten
reducirt werden, welche beiden Grössen gemeinsam sind.
Daher verschwinden hier alle Qualitäten von Lust und
Schmerz als irreal und imaginär: sie müssen sich in lauter
quantitative Unterschiede verwandeln, so dass im Normal-
falle ein Quantum Lust und ein Quantum Schmerz gleich
und entgegengesetzt sind. — Die andere Form der Willkür,
in welcher sie b) auf bestimmte einzelne Handlungen ge-
richtet ist, nenne ich Belieben oder Beschluss. Ein
solches geht aus von einem fertigen über seine Möglich-
keiten denkenden Ich, welches in Bezug auf ihm feststehen-
den Zweck eine dauernde Existenz hat, wenn auch dieser
Zweck nur um vieler anderen Zwecke willen vorhanden
ist, welche ihn als ihren Vereinigungspunkt gesetzt haben.
Nun müssen sich vielmehr nach ihm alle richten innerhalb
seines Bereiches, und während die ursprünglichen Zwecke
alle aus der gemeinsamen Masse der intellectuellen Erfahrung
— nämlich als Erinnerungen und Kenntnisse angenehmer
Empfindungen und Dinge — sich herleiten, so ist in ihm

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0161" n="125"/>
Ueberschuss von Lust, welcher unbedingter Weise willkommen<lb/>
ist, wird selbständig. Dasselbe Verhältniss findet statt,<lb/>
wenn eine Lust aufgegeben wird um einer anderen willen,<lb/>
oder ein Schmerz übernommen, um zukünftigen zu ver-<lb/>
meiden. Das Wesentliche ist die Opposition. Denn durch<lb/>
Thätigkeit des Denkens in Bezug auf ein vorzunehmendes<lb/>
Werk geschieht die scharfe <hi rendition="#g">Trennung</hi> von Zweck und<lb/>
Mittel, welche durch ihren Gegensatz vollkommen und deut-<lb/>
lich wird, wo das Eine die Verneinung des Anderen ist,<lb/>
nämlich der Zweck das Gute oder die Lust, das Mittel ein<lb/>
Uebel oder der Schmerz. Keines von beiden wird als<lb/>
solches <hi rendition="#g">gefühlt</hi>, indem sie Objecte des Denkens sind; aber<lb/>
sie werden als Gegensätze gedacht, als Begriffe die nichts<lb/>
mit einander gemein haben, ausser der Scala in welche sie<lb/>
zusammengebracht worden sind. Indem Eines sich als die<lb/><hi rendition="#g">Ursache</hi> des Anderen setzt, so setzt es sich als noth-<lb/>
wendig in Bezug darauf, um gewollt zu werden, sobald die<lb/>
gewollte Lust gross genug scheint, ein solches »Opfer« auf-<lb/>
zuwiegen. Ursache und Wirkung werden daher nach ihrem<lb/>
»Werthe« verglichen; sie müssen commensurabel sein,<lb/>
also in ihre Elemente aufgelöst und auf Maas-Einheiten<lb/>
reducirt werden, welche beiden Grössen gemeinsam sind.<lb/>
Daher verschwinden hier alle Qualitäten von Lust und<lb/>
Schmerz als irreal und imaginär: sie müssen sich in lauter<lb/>
quantitative Unterschiede verwandeln, so dass im Normal-<lb/>
falle ein Quantum Lust und ein Quantum Schmerz gleich<lb/>
und entgegengesetzt sind. &#x2014; Die andere Form der Willkür,<lb/>
in welcher sie b) auf bestimmte einzelne Handlungen ge-<lb/>
richtet ist, nenne ich <hi rendition="#g">Belieben</hi> oder <hi rendition="#g">Beschluss</hi>. Ein<lb/>
solches geht aus von einem fertigen über seine Möglich-<lb/>
keiten denkenden Ich, welches in Bezug auf ihm feststehen-<lb/>
den Zweck eine dauernde Existenz hat, wenn auch dieser<lb/>
Zweck nur um vieler anderen Zwecke willen vorhanden<lb/>
ist, welche ihn als ihren Vereinigungspunkt gesetzt haben.<lb/>
Nun müssen sich vielmehr nach ihm alle richten innerhalb<lb/>
seines Bereiches, und während die ursprünglichen Zwecke<lb/>
alle aus der gemeinsamen Masse der intellectuellen Erfahrung<lb/>
&#x2014; nämlich als Erinnerungen und Kenntnisse angenehmer<lb/>
Empfindungen und Dinge &#x2014; sich herleiten, so ist in ihm<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0161] Ueberschuss von Lust, welcher unbedingter Weise willkommen ist, wird selbständig. Dasselbe Verhältniss findet statt, wenn eine Lust aufgegeben wird um einer anderen willen, oder ein Schmerz übernommen, um zukünftigen zu ver- meiden. Das Wesentliche ist die Opposition. Denn durch Thätigkeit des Denkens in Bezug auf ein vorzunehmendes Werk geschieht die scharfe Trennung von Zweck und Mittel, welche durch ihren Gegensatz vollkommen und deut- lich wird, wo das Eine die Verneinung des Anderen ist, nämlich der Zweck das Gute oder die Lust, das Mittel ein Uebel oder der Schmerz. Keines von beiden wird als solches gefühlt, indem sie Objecte des Denkens sind; aber sie werden als Gegensätze gedacht, als Begriffe die nichts mit einander gemein haben, ausser der Scala in welche sie zusammengebracht worden sind. Indem Eines sich als die Ursache des Anderen setzt, so setzt es sich als noth- wendig in Bezug darauf, um gewollt zu werden, sobald die gewollte Lust gross genug scheint, ein solches »Opfer« auf- zuwiegen. Ursache und Wirkung werden daher nach ihrem »Werthe« verglichen; sie müssen commensurabel sein, also in ihre Elemente aufgelöst und auf Maas-Einheiten reducirt werden, welche beiden Grössen gemeinsam sind. Daher verschwinden hier alle Qualitäten von Lust und Schmerz als irreal und imaginär: sie müssen sich in lauter quantitative Unterschiede verwandeln, so dass im Normal- falle ein Quantum Lust und ein Quantum Schmerz gleich und entgegengesetzt sind. — Die andere Form der Willkür, in welcher sie b) auf bestimmte einzelne Handlungen ge- richtet ist, nenne ich Belieben oder Beschluss. Ein solches geht aus von einem fertigen über seine Möglich- keiten denkenden Ich, welches in Bezug auf ihm feststehen- den Zweck eine dauernde Existenz hat, wenn auch dieser Zweck nur um vieler anderen Zwecke willen vorhanden ist, welche ihn als ihren Vereinigungspunkt gesetzt haben. Nun müssen sich vielmehr nach ihm alle richten innerhalb seines Bereiches, und während die ursprünglichen Zwecke alle aus der gemeinsamen Masse der intellectuellen Erfahrung — nämlich als Erinnerungen und Kenntnisse angenehmer Empfindungen und Dinge — sich herleiten, so ist in ihm

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/161
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/161>, abgerufen am 25.04.2024.