Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

gorie der verwendbaren Kraft sind Seiendes und Nicht-
seiendes qualitativ gleich (d. i. vielmehr Wirkliches
und Nachgeahmtes, Gemachtes, Fingirtes).

§ 17.

So nun wird in unserer Sprache was bloss aus dem
kalten Verstande, dem "Kopfe" hervorgeht, von den warmen
Impulsen des "Herzens" unterschieden. Der Gegensatz
nämlich, um welchen es sich handelt, wird im Allgemeinen
getroffen, wenn das Gefühl als Impuls und Richtung
gebend, von dem Verstande unterschieden wird; aber in
der lebendigsten und sinnlichsten Weise: das Herz vom
Kopfe. Ehemalige Theorien begriffen solches Gefühl als
verworrene, den Akt des Verstandes aber als klare und
deutliche Vorstellung, und noch bis zu diesem Tage
hat man die Versuche nicht aufgegeben, jene aus diesen
als den scheinbar einfachen und daher als ursprünglich
angenommenen Phänomenen abzuleiten. In Wahrheit ist
das Denken -- so rational und durch sich selber evident
es aussehen mag -- die complicirteste aller psychischen
Thätigkeiten und erfordert, zumal um unabhängig von den
Impulsen des organischen Lebens vor sich zu gehen, viele
Uebung und Gewöhnung, selbst zur Anwendung so ein-
facher Kategorien wie Zweck und Mittel in Bezug auf ein-
ander. Fassung und Scheidung dieser Begriffe, und dem-
nächst Festsetzung ihres Verhältnisses kann nur durch
Wortvorstellungen, als eigentliches und discursives Denken,
geschehen; so auch die Bildung einer Willkürform, wenn
allein nach überlegten Gründen geschehend, zu sich selber
sagen: ich muss und ich will. Alle Thiere, und in einem
grossen Bereiche auch der Mensch, folgen vielmehr, sich
bewegend und sich äussernd, ihrem "Gefühle" und "Herzen",
d. i. einer Disposition und Bereitschaft, welche ihrem Keime
nach schon in der individuellen Anlage enthalten ist und
mit dieser sich entwickelt hat. Dies ist aber allerdings,
als intellectueller Besitz gedacht, dasselbe, in einem ur-
sprünglichen, auf die Gesammtverfassung des psychischen
Daseins bezogenen Zustande, was nachher allein vom

gorie der verwendbaren Kraft sind Seiendes und Nicht-
seiendes qualitativ gleich (d. i. vielmehr Wirkliches
und Nachgeahmtes, Gemachtes, Fingirtes).

§ 17.

So nun wird in unserer Sprache was bloss aus dem
kalten Verstande, dem »Kopfe« hervorgeht, von den warmen
Impulsen des »Herzens« unterschieden. Der Gegensatz
nämlich, um welchen es sich handelt, wird im Allgemeinen
getroffen, wenn das Gefühl als Impuls und Richtung
gebend, von dem Verstande unterschieden wird; aber in
der lebendigsten und sinnlichsten Weise: das Herz vom
Kopfe. Ehemalige Theorien begriffen solches Gefühl als
verworrene, den Akt des Verstandes aber als klare und
deutliche Vorstellung, und noch bis zu diesem Tage
hat man die Versuche nicht aufgegeben, jene aus diesen
als den scheinbar einfachen und daher als ursprünglich
angenommenen Phänomenen abzuleiten. In Wahrheit ist
das Denken — so rational und durch sich selber evident
es aussehen mag — die complicirteste aller psychischen
Thätigkeiten und erfordert, zumal um unabhängig von den
Impulsen des organischen Lebens vor sich zu gehen, viele
Uebung und Gewöhnung, selbst zur Anwendung so ein-
facher Kategorien wie Zweck und Mittel in Bezug auf ein-
ander. Fassung und Scheidung dieser Begriffe, und dem-
nächst Festsetzung ihres Verhältnisses kann nur durch
Wortvorstellungen, als eigentliches und discursives Denken,
geschehen; so auch die Bildung einer Willkürform, wenn
allein nach überlegten Gründen geschehend, zu sich selber
sagen: ich muss und ich will. Alle Thiere, und in einem
grossen Bereiche auch der Mensch, folgen vielmehr, sich
bewegend und sich äussernd, ihrem »Gefühle« und »Herzen«,
d. i. einer Disposition und Bereitschaft, welche ihrem Keime
nach schon in der individuellen Anlage enthalten ist und
mit dieser sich entwickelt hat. Dies ist aber allerdings,
als intellectueller Besitz gedacht, dasselbe, in einem ur-
sprünglichen, auf die Gesammtverfassung des psychischen
Daseins bezogenen Zustande, was nachher allein vom

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0175" n="139"/>
gorie der verwendbaren Kraft sind Seiendes und Nicht-<lb/>
seiendes <hi rendition="#g">qualitativ gleich</hi> (d. i. vielmehr Wirkliches<lb/>
und Nachgeahmtes, Gemachtes, Fingirtes).</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§ 17.</head><lb/>
            <p>So nun wird in unserer Sprache was bloss aus dem<lb/>
kalten Verstande, dem »Kopfe« hervorgeht, von den warmen<lb/>
Impulsen des »Herzens« unterschieden. Der Gegensatz<lb/>
nämlich, um welchen es sich handelt, wird im Allgemeinen<lb/>
getroffen, wenn das <hi rendition="#g">Gefühl</hi> als Impuls und Richtung<lb/>
gebend, von dem <hi rendition="#g">Verstande</hi> unterschieden wird; aber in<lb/>
der lebendigsten und sinnlichsten Weise: das Herz vom<lb/>
Kopfe. Ehemalige Theorien begriffen solches Gefühl als<lb/><hi rendition="#g">verworrene</hi>, den Akt des Verstandes aber als <hi rendition="#g">klare</hi> und<lb/><hi rendition="#g">deutliche Vorstellung</hi>, und noch bis zu diesem Tage<lb/>
hat man die Versuche nicht aufgegeben, jene aus diesen<lb/>
als den scheinbar einfachen und daher als ursprünglich<lb/>
angenommenen Phänomenen abzuleiten. In Wahrheit ist<lb/>
das Denken &#x2014; so rational und durch sich selber evident<lb/>
es aussehen mag &#x2014; die complicirteste aller psychischen<lb/>
Thätigkeiten und erfordert, zumal um unabhängig von den<lb/>
Impulsen des organischen Lebens vor sich zu gehen, viele<lb/>
Uebung und Gewöhnung, selbst zur Anwendung so ein-<lb/>
facher Kategorien wie Zweck und Mittel in Bezug auf ein-<lb/>
ander. Fassung und Scheidung dieser Begriffe, und dem-<lb/>
nächst Festsetzung ihres Verhältnisses kann nur durch<lb/>
Wortvorstellungen, als eigentliches und discursives Denken,<lb/>
geschehen; so auch die Bildung einer Willkürform, wenn<lb/>
allein nach überlegten Gründen geschehend, zu sich selber<lb/>
sagen: ich muss und ich will. Alle Thiere, und in einem<lb/>
grossen Bereiche auch der Mensch, folgen vielmehr, sich<lb/>
bewegend und sich äussernd, ihrem »Gefühle« und »Herzen«,<lb/>
d. i. einer Disposition und Bereitschaft, welche ihrem Keime<lb/>
nach schon in der individuellen Anlage enthalten ist und<lb/>
mit dieser sich entwickelt hat. Dies ist aber allerdings,<lb/>
als intellectueller Besitz gedacht, dasselbe, in einem ur-<lb/>
sprünglichen, auf die Gesammtverfassung des psychischen<lb/>
Daseins bezogenen Zustande, was nachher allein vom<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[139/0175] gorie der verwendbaren Kraft sind Seiendes und Nicht- seiendes qualitativ gleich (d. i. vielmehr Wirkliches und Nachgeahmtes, Gemachtes, Fingirtes). § 17. So nun wird in unserer Sprache was bloss aus dem kalten Verstande, dem »Kopfe« hervorgeht, von den warmen Impulsen des »Herzens« unterschieden. Der Gegensatz nämlich, um welchen es sich handelt, wird im Allgemeinen getroffen, wenn das Gefühl als Impuls und Richtung gebend, von dem Verstande unterschieden wird; aber in der lebendigsten und sinnlichsten Weise: das Herz vom Kopfe. Ehemalige Theorien begriffen solches Gefühl als verworrene, den Akt des Verstandes aber als klare und deutliche Vorstellung, und noch bis zu diesem Tage hat man die Versuche nicht aufgegeben, jene aus diesen als den scheinbar einfachen und daher als ursprünglich angenommenen Phänomenen abzuleiten. In Wahrheit ist das Denken — so rational und durch sich selber evident es aussehen mag — die complicirteste aller psychischen Thätigkeiten und erfordert, zumal um unabhängig von den Impulsen des organischen Lebens vor sich zu gehen, viele Uebung und Gewöhnung, selbst zur Anwendung so ein- facher Kategorien wie Zweck und Mittel in Bezug auf ein- ander. Fassung und Scheidung dieser Begriffe, und dem- nächst Festsetzung ihres Verhältnisses kann nur durch Wortvorstellungen, als eigentliches und discursives Denken, geschehen; so auch die Bildung einer Willkürform, wenn allein nach überlegten Gründen geschehend, zu sich selber sagen: ich muss und ich will. Alle Thiere, und in einem grossen Bereiche auch der Mensch, folgen vielmehr, sich bewegend und sich äussernd, ihrem »Gefühle« und »Herzen«, d. i. einer Disposition und Bereitschaft, welche ihrem Keime nach schon in der individuellen Anlage enthalten ist und mit dieser sich entwickelt hat. Dies ist aber allerdings, als intellectueller Besitz gedacht, dasselbe, in einem ur- sprünglichen, auf die Gesammtverfassung des psychischen Daseins bezogenen Zustande, was nachher allein vom

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/175
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/175>, abgerufen am 18.04.2024.