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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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diese Conception kann der Wirklichkeit mehr oder weniger
adäquat sein. Was man empfängt, das sind Genüsse oder
Güter (d. i. Sachen als Möglichkeiten von Genüssen); was
man zahlt, das sind Lust-Elemente, Mittel, Stücke der Frei-
heit oder wiederum Güter. -- Wenn aber diese Verkörperung
gleichsam zurückgenommen, und der blos subjective Begriff
der Freiheit wiederhergestellt wird, so ist sie die absolute
Position (Selbstbejahung) des Denkens. Hiergegen dann
der Gedanke der Willkür, welcher, in Hinsicht auf den
Zusammenhang der Natur, eine bestimmte Handlung als
Ursache, und somit durch den eigenen Wunsch und Willen
(eines Endes, Erfolges, Zweckes) gefordert, geboten, er-
heischt, als nothwendig setzt, Negation schlechthin; ein
Befehl, den man an sich selber richtet, ein Zwang, den
man (zunächst in der Idee) sich anthut. "Ich will" heisst
hier soviel als "du musst" oder "du sollst". Man ist es
dem Zwecke schuldig, d. h. sich selber schuldig. Durch
die Ausführung löst man sich von seiner Schuld. -- So
stehen sich in Gedanken und in Handlung die Lust- oder
Plus-Elemente und die Schmerz- oder Minus-Elemente als
einander ausschliessend und aufhebend gegenüber.

§ 22.

Im Gebiete der Realität und des Wesenwillens gibt
es keine zweiseitige Möglichkeit, kein Vermögen des Wollens
oder nicht; sondern Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit
sind gleich Kräften und bedeuten die Thätigkeit selber --
auf eine unvollkommene Weise --, welche ihr Inhalt und
ihre Erfüllung ist. Was als einzelnes Stück davon gelöst
werden kann, ist nur Erscheinung und Aeusserung eines
Beharrenden, Bleibenden, das durch solche Function nicht
nur sich erhält, sondern (unter gewissen Bedingungen)
sogar sich verstärkt und vermehrt, indem es ernährt wird
aus einem Gesammtvorrathe, welcher selber sich ernährt
und erhält durch seine Berührungen und Wechselwirkungen
mit den umgebenden, begrenzenden Dingen; als welche so-
wohl psychisch wie physisch verstanden werden können. Es
ist Seiendes als Vergangenes, Gewesenes; hingegen die Mög-

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diese Conception kann der Wirklichkeit mehr oder weniger
adäquat sein. Was man empfängt, das sind Genüsse oder
Güter (d. i. Sachen als Möglichkeiten von Genüssen); was
man zahlt, das sind Lust-Elemente, Mittel, Stücke der Frei-
heit oder wiederum Güter. — Wenn aber diese Verkörperung
gleichsam zurückgenommen, und der blos subjective Begriff
der Freiheit wiederhergestellt wird, so ist sie die absolute
Position (Selbstbejahung) des Denkens. Hiergegen dann
der Gedanke der Willkür, welcher, in Hinsicht auf den
Zusammenhang der Natur, eine bestimmte Handlung als
Ursache, und somit durch den eigenen Wunsch und Willen
(eines Endes, Erfolges, Zweckes) gefordert, geboten, er-
heischt, als nothwendig setzt, Negation schlechthin; ein
Befehl, den man an sich selber richtet, ein Zwang, den
man (zunächst in der Idee) sich anthut. »Ich will« heisst
hier soviel als »du musst« oder »du sollst«. Man ist es
dem Zwecke schuldig, d. h. sich selber schuldig. Durch
die Ausführung löst man sich von seiner Schuld. — So
stehen sich in Gedanken und in Handlung die Lust- oder
Plus-Elemente und die Schmerz- oder Minus-Elemente als
einander ausschliessend und aufhebend gegenüber.

§ 22.

Im Gebiete der Realität und des Wesenwillens gibt
es keine zweiseitige Möglichkeit, kein Vermögen des Wollens
oder nicht; sondern Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit
sind gleich Kräften und bedeuten die Thätigkeit selber —
auf eine unvollkommene Weise —, welche ihr Inhalt und
ihre Erfüllung ist. Was als einzelnes Stück davon gelöst
werden kann, ist nur Erscheinung und Aeusserung eines
Beharrenden, Bleibenden, das durch solche Function nicht
nur sich erhält, sondern (unter gewissen Bedingungen)
sogar sich verstärkt und vermehrt, indem es ernährt wird
aus einem Gesammtvorrathe, welcher selber sich ernährt
und erhält durch seine Berührungen und Wechselwirkungen
mit den umgebenden, begrenzenden Dingen; als welche so-
wohl psychisch wie physisch verstanden werden können. Es
ist Seiendes als Vergangenes, Gewesenes; hingegen die Mög-

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[147/0183] diese Conception kann der Wirklichkeit mehr oder weniger adäquat sein. Was man empfängt, das sind Genüsse oder Güter (d. i. Sachen als Möglichkeiten von Genüssen); was man zahlt, das sind Lust-Elemente, Mittel, Stücke der Frei- heit oder wiederum Güter. — Wenn aber diese Verkörperung gleichsam zurückgenommen, und der blos subjective Begriff der Freiheit wiederhergestellt wird, so ist sie die absolute Position (Selbstbejahung) des Denkens. Hiergegen dann der Gedanke der Willkür, welcher, in Hinsicht auf den Zusammenhang der Natur, eine bestimmte Handlung als Ursache, und somit durch den eigenen Wunsch und Willen (eines Endes, Erfolges, Zweckes) gefordert, geboten, er- heischt, als nothwendig setzt, Negation schlechthin; ein Befehl, den man an sich selber richtet, ein Zwang, den man (zunächst in der Idee) sich anthut. »Ich will« heisst hier soviel als »du musst« oder »du sollst«. Man ist es dem Zwecke schuldig, d. h. sich selber schuldig. Durch die Ausführung löst man sich von seiner Schuld. — So stehen sich in Gedanken und in Handlung die Lust- oder Plus-Elemente und die Schmerz- oder Minus-Elemente als einander ausschliessend und aufhebend gegenüber. § 22. Im Gebiete der Realität und des Wesenwillens gibt es keine zweiseitige Möglichkeit, kein Vermögen des Wollens oder nicht; sondern Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit sind gleich Kräften und bedeuten die Thätigkeit selber — auf eine unvollkommene Weise —, welche ihr Inhalt und ihre Erfüllung ist. Was als einzelnes Stück davon gelöst werden kann, ist nur Erscheinung und Aeusserung eines Beharrenden, Bleibenden, das durch solche Function nicht nur sich erhält, sondern (unter gewissen Bedingungen) sogar sich verstärkt und vermehrt, indem es ernährt wird aus einem Gesammtvorrathe, welcher selber sich ernährt und erhält durch seine Berührungen und Wechselwirkungen mit den umgebenden, begrenzenden Dingen; als welche so- wohl psychisch wie physisch verstanden werden können. Es ist Seiendes als Vergangenes, Gewesenes; hingegen die Mög- 10*

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/183>, abgerufen am 18.04.2024.