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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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übten und unter gewissen Umständen regelmässig erfolgenden
Verhalten entsprechend und zu Grunde liegend gedacht
wird. Solche allgemeine Beschaffenheit kann dem Wesen-
willen günstiger und angemessener sein oder der Willkür.
Die Elemente der einen und die der anderen Art können sich
in ihr begegnen und vermischen, und sie mehr oder minder aus-
füllen und bestimmen. Wenn nun diese wiederum unterschie-
den wird, je nachdem sie im organischen, im animalischen oder
im mentalen Leben des Menschen hauptsächlich erscheine,
so mögen folgende bekannte Begriffe sich herausstellen:

1) Temperament,
2) Charakter,
3) Denkungsart.

Welche jedoch aller Connotationen, vermöge deren sie etwas
mit dem "Wesen" oder Wesenwillen des Menschen Iden-
tisches bedeuten, entkleidet und auf den rein logischen
Sinn von "Dispositionen", die der durchschnittlichen Wirk-
lichkeit entsprechend und antecedirend gedacht werden,
zurückgeführt sein sollen. Man kann aber dieses Verhältniss
auch so darstellen: zu den gegebenen und für Willkür
apriorischen Eigenschaften, welche dem Wesenwillen in-
härent gedacht werden und auch in Opposition zu den-
selben, kann sich Willkür ihre neuen und besonderen Eigen-
schaften herstellen und so etwas wie einen künstlichen
Charakter (u. s. w.) machen, welcher jedoch mit dem natür-
lichen oder aus Wesenwillen herstammenden Charakter
nichts als den Namen gemein hat, einen Namen, der darin
begründet ist, dass durch beide die wechselnden Erschei-
nungen auf einen bleibenden oder substanziellen Träger
bezogen werden. Dieser also, oder Charakter im allgemeinen
Verstande, wird in der Regel aus dem zwiefachen Ursprunge
zusammengeflossen sein; oder das normale Gebahren,
Handeln, Urtheilen (Reden) zu einem Theile aus Gesinnung,
Gemüth, Gewissen, zu einem anderen, sei er grösser oder
kleiner, aus Bestrebung (Interesse), Berechnung, Bewusst-
heit hervorgehen. Wobei immerhin bemerkt werden möge,
wie wenig aber überhaupt ein Mensch seinem eigenen Willen
und seinen eigenen Gesetzen, zumal auf directe Weise, zu
folgen pflegt und vermag.

übten und unter gewissen Umständen regelmässig erfolgenden
Verhalten entsprechend und zu Grunde liegend gedacht
wird. Solche allgemeine Beschaffenheit kann dem Wesen-
willen günstiger und angemessener sein oder der Willkür.
Die Elemente der einen und die der anderen Art können sich
in ihr begegnen und vermischen, und sie mehr oder minder aus-
füllen und bestimmen. Wenn nun diese wiederum unterschie-
den wird, je nachdem sie im organischen, im animalischen oder
im mentalen Leben des Menschen hauptsächlich erscheine,
so mögen folgende bekannte Begriffe sich herausstellen:

1) Temperament,
2) Charakter,
3) Denkungsart.

Welche jedoch aller Connotationen, vermöge deren sie etwas
mit dem »Wesen« oder Wesenwillen des Menschen Iden-
tisches bedeuten, entkleidet und auf den rein logischen
Sinn von »Dispositionen«, die der durchschnittlichen Wirk-
lichkeit entsprechend und antecedirend gedacht werden,
zurückgeführt sein sollen. Man kann aber dieses Verhältniss
auch so darstellen: zu den gegebenen und für Willkür
apriorischen Eigenschaften, welche dem Wesenwillen in-
härent gedacht werden und auch in Opposition zu den-
selben, kann sich Willkür ihre neuen und besonderen Eigen-
schaften herstellen und so etwas wie einen künstlichen
Charakter (u. s. w.) machen, welcher jedoch mit dem natür-
lichen oder aus Wesenwillen herstammenden Charakter
nichts als den Namen gemein hat, einen Namen, der darin
begründet ist, dass durch beide die wechselnden Erschei-
nungen auf einen bleibenden oder substanziellen Träger
bezogen werden. Dieser also, oder Charakter im allgemeinen
Verstande, wird in der Regel aus dem zwiefachen Ursprunge
zusammengeflossen sein; oder das normale Gebahren,
Handeln, Urtheilen (Reden) zu einem Theile aus Gesinnung,
Gemüth, Gewissen, zu einem anderen, sei er grösser oder
kleiner, aus Bestrebung (Interesse), Berechnung, Bewusst-
heit hervorgehen. Wobei immerhin bemerkt werden möge,
wie wenig aber überhaupt ein Mensch seinem eigenen Willen
und seinen eigenen Gesetzen, zumal auf directe Weise, zu
folgen pflegt und vermag.

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[154/0190] übten und unter gewissen Umständen regelmässig erfolgenden Verhalten entsprechend und zu Grunde liegend gedacht wird. Solche allgemeine Beschaffenheit kann dem Wesen- willen günstiger und angemessener sein oder der Willkür. Die Elemente der einen und die der anderen Art können sich in ihr begegnen und vermischen, und sie mehr oder minder aus- füllen und bestimmen. Wenn nun diese wiederum unterschie- den wird, je nachdem sie im organischen, im animalischen oder im mentalen Leben des Menschen hauptsächlich erscheine, so mögen folgende bekannte Begriffe sich herausstellen: 1) Temperament, 2) Charakter, 3) Denkungsart. Welche jedoch aller Connotationen, vermöge deren sie etwas mit dem »Wesen« oder Wesenwillen des Menschen Iden- tisches bedeuten, entkleidet und auf den rein logischen Sinn von »Dispositionen«, die der durchschnittlichen Wirk- lichkeit entsprechend und antecedirend gedacht werden, zurückgeführt sein sollen. Man kann aber dieses Verhältniss auch so darstellen: zu den gegebenen und für Willkür apriorischen Eigenschaften, welche dem Wesenwillen in- härent gedacht werden und auch in Opposition zu den- selben, kann sich Willkür ihre neuen und besonderen Eigen- schaften herstellen und so etwas wie einen künstlichen Charakter (u. s. w.) machen, welcher jedoch mit dem natür- lichen oder aus Wesenwillen herstammenden Charakter nichts als den Namen gemein hat, einen Namen, der darin begründet ist, dass durch beide die wechselnden Erschei- nungen auf einen bleibenden oder substanziellen Träger bezogen werden. Dieser also, oder Charakter im allgemeinen Verstande, wird in der Regel aus dem zwiefachen Ursprunge zusammengeflossen sein; oder das normale Gebahren, Handeln, Urtheilen (Reden) zu einem Theile aus Gesinnung, Gemüth, Gewissen, zu einem anderen, sei er grösser oder kleiner, aus Bestrebung (Interesse), Berechnung, Bewusst- heit hervorgehen. Wobei immerhin bemerkt werden möge, wie wenig aber überhaupt ein Mensch seinem eigenen Willen und seinen eigenen Gesetzen, zumal auf directe Weise, zu folgen pflegt und vermag.

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/190>, abgerufen am 23.04.2024.