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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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ein angenommenes (affectirtes) und zur Schau getragenes
"Wesen" eine gespielte "Rolle".

§ 27.

Das menschliche Leben oder Wollen (und also die
Gesammtheit menschlicher Thätigkeiten) wird entweder als
ein essentiell-organischer und als solcher in die Mannig-
faltigkeit des intellectuellen Lebens sich fortsetzender Process
betrachtet, der bei allen Menschen nur insoweit gleich ist,
als ihre organischen Beschaffenheiten und die Bedingungen
ihrer Entwicklung und ihres Daseins gleich sind; aber ver-
schieden insofern als diese sich differenzirt haben. Das
Wollen ist hiernach nicht lehrbar; wie der alte Satz der
Schulen, welcher dem Seneca entnommen ist, aussagt: Velle
non discitur;
oder doch nur lehrbar in dem Sinne, wie eine
schöne Kunst es ist, deren Werke nicht nach Regeln sich
hervorbringen lassen, sondern aus eigenthümlichen leiblich-
geistigen Qualitäten, insbesondere aus einer dahin gerich-
teten Kraft und Stimmung, der schaffenden Phantasie des
Künstlers entspringen müssen. Das Lernen ist hier nichts
als das Wachsthum, die Ausbildung eines angeborenen
Talentes, durch Uebung und durch Nachahmung. Die
künstlerische Thätigkeit ist ein Stück der diesem Menschen
eigenen Art zu leben, zu reden, zu schaffen. Diese prägt
sich aus in dem wahren Werke, wie die Natur und Kraft
eines jeden Organismus sich auf irgendwelche Weise in
allen seinen Theilen ausdrückt, und wie sie zumal in seinen
Generations-Producten auf vollkommene Weise enthalten
ist, und auf neue ihm gleichartige Wesen übertragen, ver-
erbt wird. Dies ist das Leben und die Lebensweise als
Beruf. -- Oder aber das Leben wird aufgefasst und be-
trieben wie ein Geschäft mit dem bestimmten Zwecke, ein
eingebildetes Glück als sein Ende zu erreichen. Es lassen
sich dann allerdings Begriffe und Regeln bilden, welche die
beste Methode, solchen Zweck und Erfolg durchzusetzen,
auf eine Art und Weise darstellen, beweisen, mittheilen, dass
sie von jedem Menschen, der logischer Operationen fähig
ist -- welche in Wirklichkeit von Allen und in allen

ein angenommenes (affectirtes) und zur Schau getragenes
»Wesen« eine gespielte »Rolle«.

§ 27.

Das menschliche Leben oder Wollen (und also die
Gesammtheit menschlicher Thätigkeiten) wird entweder als
ein essentiell-organischer und als solcher in die Mannig-
faltigkeit des intellectuellen Lebens sich fortsetzender Process
betrachtet, der bei allen Menschen nur insoweit gleich ist,
als ihre organischen Beschaffenheiten und die Bedingungen
ihrer Entwicklung und ihres Daseins gleich sind; aber ver-
schieden insofern als diese sich differenzirt haben. Das
Wollen ist hiernach nicht lehrbar; wie der alte Satz der
Schulen, welcher dem Seneca entnommen ist, aussagt: Velle
non discitur;
oder doch nur lehrbar in dem Sinne, wie eine
schöne Kunst es ist, deren Werke nicht nach Regeln sich
hervorbringen lassen, sondern aus eigenthümlichen leiblich-
geistigen Qualitäten, insbesondere aus einer dahin gerich-
teten Kraft und Stimmung, der schaffenden Phantasie des
Künstlers entspringen müssen. Das Lernen ist hier nichts
als das Wachsthum, die Ausbildung eines angeborenen
Talentes, durch Uebung und durch Nachahmung. Die
künstlerische Thätigkeit ist ein Stück der diesem Menschen
eigenen Art zu leben, zu reden, zu schaffen. Diese prägt
sich aus in dem wahren Werke, wie die Natur und Kraft
eines jeden Organismus sich auf irgendwelche Weise in
allen seinen Theilen ausdrückt, und wie sie zumal in seinen
Generations-Producten auf vollkommene Weise enthalten
ist, und auf neue ihm gleichartige Wesen übertragen, ver-
erbt wird. Dies ist das Leben und die Lebensweise als
Beruf. — Oder aber das Leben wird aufgefasst und be-
trieben wie ein Geschäft mit dem bestimmten Zwecke, ein
eingebildetes Glück als sein Ende zu erreichen. Es lassen
sich dann allerdings Begriffe und Regeln bilden, welche die
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auf eine Art und Weise darstellen, beweisen, mittheilen, dass
sie von jedem Menschen, der logischer Operationen fähig
ist — welche in Wirklichkeit von Allen und in allen

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[156/0192] ein angenommenes (affectirtes) und zur Schau getragenes »Wesen« eine gespielte »Rolle«. § 27. Das menschliche Leben oder Wollen (und also die Gesammtheit menschlicher Thätigkeiten) wird entweder als ein essentiell-organischer und als solcher in die Mannig- faltigkeit des intellectuellen Lebens sich fortsetzender Process betrachtet, der bei allen Menschen nur insoweit gleich ist, als ihre organischen Beschaffenheiten und die Bedingungen ihrer Entwicklung und ihres Daseins gleich sind; aber ver- schieden insofern als diese sich differenzirt haben. Das Wollen ist hiernach nicht lehrbar; wie der alte Satz der Schulen, welcher dem Seneca entnommen ist, aussagt: Velle non discitur; oder doch nur lehrbar in dem Sinne, wie eine schöne Kunst es ist, deren Werke nicht nach Regeln sich hervorbringen lassen, sondern aus eigenthümlichen leiblich- geistigen Qualitäten, insbesondere aus einer dahin gerich- teten Kraft und Stimmung, der schaffenden Phantasie des Künstlers entspringen müssen. Das Lernen ist hier nichts als das Wachsthum, die Ausbildung eines angeborenen Talentes, durch Uebung und durch Nachahmung. Die künstlerische Thätigkeit ist ein Stück der diesem Menschen eigenen Art zu leben, zu reden, zu schaffen. Diese prägt sich aus in dem wahren Werke, wie die Natur und Kraft eines jeden Organismus sich auf irgendwelche Weise in allen seinen Theilen ausdrückt, und wie sie zumal in seinen Generations-Producten auf vollkommene Weise enthalten ist, und auf neue ihm gleichartige Wesen übertragen, ver- erbt wird. Dies ist das Leben und die Lebensweise als Beruf. — Oder aber das Leben wird aufgefasst und be- trieben wie ein Geschäft mit dem bestimmten Zwecke, ein eingebildetes Glück als sein Ende zu erreichen. Es lassen sich dann allerdings Begriffe und Regeln bilden, welche die beste Methode, solchen Zweck und Erfolg durchzusetzen, auf eine Art und Weise darstellen, beweisen, mittheilen, dass sie von jedem Menschen, der logischer Operationen fähig ist — welche in Wirklichkeit von Allen und in allen

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/192>, abgerufen am 28.03.2024.