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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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Nun aber ist, nicht erst unter den Menschen, sondern
wenigstens auch bei den oberen Säugethieren und überall,
wo das weibliche Thier einen grossen Theil seiner Zeit und
Sorge der Brut widmen muss, eben dadurch das Leben
des Männlichen activer, weil ihm die Nahrungssorge an-
heimfällt und als Kampfarbeit vorzüglich jene, welche zu
Angriff und Raub nothwendig ist, ja um den Erwerb des
Weibchens selber er seine Rivalen zu tödten sich bemühen
muss. Als Jäger aber und als Räuber ist er in die Ferne
zu spähen und zu horchen angeregt: er übt diese activsten
und selbständigsten Sinnesorgane, schärft sie für die Wahr-
nehmung entfernter Dinge und macht ihren Gebrauch eben
dadurch willenshafter, d. i. mehr von dem eigenen Gesammt-
zustande und weniger von unmittelbar empfangenen Ein-
drücken abhängig (was die gewöhnliche und physiologische
Sprache eben als "willkürlich" bezeichnet). (Das Gesicht
aber ist in weit höherem Grade als das Gehör für solche
Verbesserung und Spannung geeignet.) So wird ein Mann
eher der activen und eigenen Perception und Apperception
fähig, welche den Stoff der Eindrücke wie mit Greiforganen
anfasst und zurechtmacht, die gegebenen Stücke und Zeichen
synthetisch zu ihrem Ganzen gestaltet. Und dies ist es,
diese wache Aufmerksamkeit, wodurch -- wie schon
gesagt worden -- der Verstand oder das animalische Ge-
dächtniss wächst und sich ausbildet: ein Organ, dessen
Anlage dann, durch jede Generation vollkommener, auch
auf das weibliche Geschlecht vererbt zu werden tendirt.
Wenn nun zwar die Thätigkeit desselben noch keineswegs
Denken ist, so ist sie doch eine Vorbereitung dazu, insofern
als eine intellectuale Thätigkeit, welche unabhängig von
den unmittelbaren Antrieben des Lebens (ohne Mitbewe-
gungen), und unabhängig von den gerade empfangenen
Eindrücken vollzogen werden kann (nämlich was Verstand
aus eigenen Vorräthen zu den empfangenen und wirksamen
Reizen hinzuthut, wodurch dann es wahr ist oti nous ora
kai nous akouei, talla kopha kai tuphla: mentem esse quae
videt, mentem quae audit, reliqua surda esse et caeca)
. Denn
die mit solcher wachen Aufmerksamkeit geschehende Ver-
gleichung von Daten, welche blos vermöge der mit Wort-

Nun aber ist, nicht erst unter den Menschen, sondern
wenigstens auch bei den oberen Säugethieren und überall,
wo das weibliche Thier einen grossen Theil seiner Zeit und
Sorge der Brut widmen muss, eben dadurch das Leben
des Männlichen activer, weil ihm die Nahrungssorge an-
heimfällt und als Kampfarbeit vorzüglich jene, welche zu
Angriff und Raub nothwendig ist, ja um den Erwerb des
Weibchens selber er seine Rivalen zu tödten sich bemühen
muss. Als Jäger aber und als Räuber ist er in die Ferne
zu spähen und zu horchen angeregt: er übt diese activsten
und selbständigsten Sinnesorgane, schärft sie für die Wahr-
nehmung entfernter Dinge und macht ihren Gebrauch eben
dadurch willenshafter, d. i. mehr von dem eigenen Gesammt-
zustande und weniger von unmittelbar empfangenen Ein-
drücken abhängig (was die gewöhnliche und physiologische
Sprache eben als »willkürlich« bezeichnet). (Das Gesicht
aber ist in weit höherem Grade als das Gehör für solche
Verbesserung und Spannung geeignet.) So wird ein Mann
eher der activen und eigenen Perception und Apperception
fähig, welche den Stoff der Eindrücke wie mit Greiforganen
anfasst und zurechtmacht, die gegebenen Stücke und Zeichen
synthetisch zu ihrem Ganzen gestaltet. Und dies ist es,
diese wache Aufmerksamkeit, wodurch — wie schon
gesagt worden — der Verstand oder das animalische Ge-
dächtniss wächst und sich ausbildet: ein Organ, dessen
Anlage dann, durch jede Generation vollkommener, auch
auf das weibliche Geschlecht vererbt zu werden tendirt.
Wenn nun zwar die Thätigkeit desselben noch keineswegs
Denken ist, so ist sie doch eine Vorbereitung dazu, insofern
als eine intellectuale Thätigkeit, welche unabhängig von
den unmittelbaren Antrieben des Lebens (ohne Mitbewe-
gungen), und unabhängig von den gerade empfangenen
Eindrücken vollzogen werden kann (nämlich was Verstand
aus eigenen Vorräthen zu den empfangenen und wirksamen
Reizen hinzuthut, wodurch dann es wahr ist ὅτι νοῦς ὁρᾷ
καὶ νοῦς ἀκούει, τἆλλα κωφὰ καὶ τυφλά: mentem esse quae
videt, mentem quae audit, reliqua surda esse et caeca)
. Denn
die mit solcher wachen Aufmerksamkeit geschehende Ver-
gleichung von Daten, welche blos vermöge der mit Wort-

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[168/0204] Nun aber ist, nicht erst unter den Menschen, sondern wenigstens auch bei den oberen Säugethieren und überall, wo das weibliche Thier einen grossen Theil seiner Zeit und Sorge der Brut widmen muss, eben dadurch das Leben des Männlichen activer, weil ihm die Nahrungssorge an- heimfällt und als Kampfarbeit vorzüglich jene, welche zu Angriff und Raub nothwendig ist, ja um den Erwerb des Weibchens selber er seine Rivalen zu tödten sich bemühen muss. Als Jäger aber und als Räuber ist er in die Ferne zu spähen und zu horchen angeregt: er übt diese activsten und selbständigsten Sinnesorgane, schärft sie für die Wahr- nehmung entfernter Dinge und macht ihren Gebrauch eben dadurch willenshafter, d. i. mehr von dem eigenen Gesammt- zustande und weniger von unmittelbar empfangenen Ein- drücken abhängig (was die gewöhnliche und physiologische Sprache eben als »willkürlich« bezeichnet). (Das Gesicht aber ist in weit höherem Grade als das Gehör für solche Verbesserung und Spannung geeignet.) So wird ein Mann eher der activen und eigenen Perception und Apperception fähig, welche den Stoff der Eindrücke wie mit Greiforganen anfasst und zurechtmacht, die gegebenen Stücke und Zeichen synthetisch zu ihrem Ganzen gestaltet. Und dies ist es, diese wache Aufmerksamkeit, wodurch — wie schon gesagt worden — der Verstand oder das animalische Ge- dächtniss wächst und sich ausbildet: ein Organ, dessen Anlage dann, durch jede Generation vollkommener, auch auf das weibliche Geschlecht vererbt zu werden tendirt. Wenn nun zwar die Thätigkeit desselben noch keineswegs Denken ist, so ist sie doch eine Vorbereitung dazu, insofern als eine intellectuale Thätigkeit, welche unabhängig von den unmittelbaren Antrieben des Lebens (ohne Mitbewe- gungen), und unabhängig von den gerade empfangenen Eindrücken vollzogen werden kann (nämlich was Verstand aus eigenen Vorräthen zu den empfangenen und wirksamen Reizen hinzuthut, wodurch dann es wahr ist ὅτι νοῦς ὁρᾷ καὶ νοῦς ἀκούει, τἆλλα κωφὰ καὶ τυφλά: mentem esse quae videt, mentem quae audit, reliqua surda esse et caeca). Denn die mit solcher wachen Aufmerksamkeit geschehende Ver- gleichung von Daten, welche blos vermöge der mit Wort-

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/204>, abgerufen am 25.04.2024.