Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

er auf andere Weise besser zu seinem Ziele zu kommen
meint; und er nimmt die Folgen seiner Uebertretung auf
sich: als gewisse oder als wahrscheinliche. Er kann sich
verrechnen; und er kann thöricht zu schelten sein, weil er
eine Art von Uebeln der anderen, eine geringere Art von
Gütern der besseren Art vorzieht, vielleicht kömmt er sich
selber so vor, und bereut, wenn er sein Ziel erreicht hat.
Aber, da er überlegte und sich entschied, konnte er (der
Voraussetzung nach) nur mit seiner eigenen Denkkraft über
die ihm bewussten und zu Gebote stehenden Data verfügen.
Die denkende Beurtheilung derselben war seine eigentliche
Thätigkeit: er konnte sie anders beurtheilen: nicht wenn
er wollte, sondern wenn seine Erkenntniss grösser und
weiter gewesen wäre, so hätte er es können. Die Berich-
tigung und Verbesserung der Einsicht bleibt daher das
alleinige Wünschenswerthe: um ein klügeres und also dem
Subjecte besseres Handeln zu bewirken. Durch das unbe-
fangene, rechnende Denken wird der Mensch frei, nämlich
von den Impulsen, Gefühlen, Leidenschaften, Vorurtheilen,
welche ihn sonst zu beherrschen scheinen, frei. So nimmt
denn, mit steigendem Alter, die Leidenschaft der Liebe und
Freundschaft ab, auch Hass und Zorn und Feindschaft.
Aber freilich: in weitem Umfange werden doch diese
selbigen Empfindungen erst lebendig durch die Bedingungen
vermehrter Jahre: wie die Geschlechtsliebe, und ihr Correlat,
die Eifersucht. Ferner [ - 1 Zeichen fehlt]ird erst durch die Dauer der Zu-
stände Gewohnhe[it] und das bleibende, wachsende Gefühl
ihres Werthes eine mächtige Potenz, welche Menschen an
Menschen knüpft. Vollends gilt dasselbe, wenn die intellec-
tuelle Entwicklung und Reife in Betracht genommen wird.
Daher wird der Leidenschaftliche, sofern seine Leiden-
schaften Begierden sind und auf ihre Befriedigung und
Stillung nothwendiger Weise ausgehen, leichter und mit
minderer Rücksicht auf andere Motive, die in ihm noch
schwach sind und ihn weniger hemmen, seine vorhandene
Fähigkeit zu listigem, Pläne machendem Denken anwenden
können; also der Junge eher als der Alte. Auch wird er
leichter Gefahren für Leib und Leben auf sich nehmen, um
seine Zwecke zu erreichen, da ihm der jugendliche Muth,

er auf andere Weise besser zu seinem Ziele zu kommen
meint; und er nimmt die Folgen seiner Uebertretung auf
sich: als gewisse oder als wahrscheinliche. Er kann sich
verrechnen; und er kann thöricht zu schelten sein, weil er
eine Art von Uebeln der anderen, eine geringere Art von
Gütern der besseren Art vorzieht, vielleicht kömmt er sich
selber so vor, und bereut, wenn er sein Ziel erreicht hat.
Aber, da er überlegte und sich entschied, konnte er (der
Voraussetzung nach) nur mit seiner eigenen Denkkraft über
die ihm bewussten und zu Gebote stehenden Data verfügen.
Die denkende Beurtheilung derselben war seine eigentliche
Thätigkeit: er konnte sie anders beurtheilen: nicht wenn
er wollte, sondern wenn seine Erkenntniss grösser und
weiter gewesen wäre, so hätte er es können. Die Berich-
tigung und Verbesserung der Einsicht bleibt daher das
alleinige Wünschenswerthe: um ein klügeres und also dem
Subjecte besseres Handeln zu bewirken. Durch das unbe-
fangene, rechnende Denken wird der Mensch frei, nämlich
von den Impulsen, Gefühlen, Leidenschaften, Vorurtheilen,
welche ihn sonst zu beherrschen scheinen, frei. So nimmt
denn, mit steigendem Alter, die Leidenschaft der Liebe und
Freundschaft ab, auch Hass und Zorn und Feindschaft.
Aber freilich: in weitem Umfange werden doch diese
selbigen Empfindungen erst lebendig durch die Bedingungen
vermehrter Jahre: wie die Geschlechtsliebe, und ihr Correlat,
die Eifersucht. Ferner [ – 1 Zeichen fehlt]ird erst durch die Dauer der Zu-
stände Gewohnhe[it] und das bleibende, wachsende Gefühl
ihres Werthes eine mächtige Potenz, welche Menschen an
Menschen knüpft. Vollends gilt dasselbe, wenn die intellec-
tuelle Entwicklung und Reife in Betracht genommen wird.
Daher wird der Leidenschaftliche, sofern seine Leiden-
schaften Begierden sind und auf ihre Befriedigung und
Stillung nothwendiger Weise ausgehen, leichter und mit
minderer Rücksicht auf andere Motive, die in ihm noch
schwach sind und ihn weniger hemmen, seine vorhandene
Fähigkeit zu listigem, Pläne machendem Denken anwenden
können; also der Junge eher als der Alte. Auch wird er
leichter Gefahren für Leib und Leben auf sich nehmen, um
seine Zwecke zu erreichen, da ihm der jugendliche Muth,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0211" n="175"/>
er auf andere Weise besser zu seinem Ziele zu kommen<lb/>
meint; und er nimmt die Folgen seiner Uebertretung auf<lb/>
sich: als gewisse oder als wahrscheinliche. Er kann sich<lb/>
verrechnen; und er kann thöricht zu schelten sein, weil er<lb/><hi rendition="#g">eine</hi> Art von Uebeln der anderen, eine geringere Art von<lb/>
Gütern der besseren Art vorzieht, vielleicht kömmt er sich<lb/>
selber so vor, und bereut, wenn er sein Ziel erreicht hat.<lb/>
Aber, da er überlegte und sich entschied, konnte er (der<lb/>
Voraussetzung nach) nur mit seiner eigenen Denkkraft über<lb/>
die ihm bewussten und zu Gebote stehenden Data verfügen.<lb/>
Die denkende Beurtheilung derselben war seine eigentliche<lb/>
Thätigkeit: er <hi rendition="#g">konnte</hi> sie anders beurtheilen: nicht wenn<lb/>
er wollte, sondern wenn seine Erkenntniss grösser und<lb/>
weiter gewesen wäre, so <hi rendition="#g">hätte</hi> er es können. Die Berich-<lb/>
tigung und Verbesserung der Einsicht bleibt daher das<lb/>
alleinige Wünschenswerthe: um ein klügeres und also dem<lb/>
Subjecte besseres Handeln zu bewirken. Durch das unbe-<lb/>
fangene, rechnende Denken wird der Mensch frei, nämlich<lb/>
von den Impulsen, Gefühlen, Leidenschaften, Vorurtheilen,<lb/>
welche ihn sonst zu beherrschen scheinen, frei. So nimmt<lb/>
denn, mit steigendem Alter, die Leidenschaft der Liebe und<lb/>
Freundschaft ab, auch Hass und Zorn und Feindschaft.<lb/>
Aber freilich: in weitem Umfange werden doch diese<lb/>
selbigen Empfindungen erst lebendig durch die Bedingungen<lb/>
vermehrter Jahre: wie die Geschlechtsliebe, und ihr Correlat,<lb/>
die Eifersucht. Ferner <gap unit="chars" quantity="1"/>ird erst durch die Dauer der Zu-<lb/>
stände Gewohnhe<supplied>it</supplied> und das bleibende, wachsende Gefühl<lb/>
ihres Werthes eine mächtige Potenz, welche Menschen an<lb/>
Menschen knüpft. Vollends gilt dasselbe, wenn die intellec-<lb/>
tuelle Entwicklung und Reife in Betracht genommen wird.<lb/>
Daher wird der Leidenschaftliche, sofern seine Leiden-<lb/>
schaften Begierden sind und auf ihre Befriedigung und<lb/>
Stillung nothwendiger Weise ausgehen, leichter und mit<lb/>
minderer Rücksicht auf andere Motive, die in ihm noch<lb/>
schwach sind und ihn weniger hemmen, seine <hi rendition="#g">vorhandene</hi><lb/>
Fähigkeit zu listigem, Pläne machendem Denken <hi rendition="#g">anwenden</hi><lb/>
können; also der Junge eher als der Alte. Auch wird er<lb/>
leichter Gefahren für Leib und Leben auf sich nehmen, um<lb/>
seine Zwecke zu erreichen, da ihm der jugendliche Muth,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[175/0211] er auf andere Weise besser zu seinem Ziele zu kommen meint; und er nimmt die Folgen seiner Uebertretung auf sich: als gewisse oder als wahrscheinliche. Er kann sich verrechnen; und er kann thöricht zu schelten sein, weil er eine Art von Uebeln der anderen, eine geringere Art von Gütern der besseren Art vorzieht, vielleicht kömmt er sich selber so vor, und bereut, wenn er sein Ziel erreicht hat. Aber, da er überlegte und sich entschied, konnte er (der Voraussetzung nach) nur mit seiner eigenen Denkkraft über die ihm bewussten und zu Gebote stehenden Data verfügen. Die denkende Beurtheilung derselben war seine eigentliche Thätigkeit: er konnte sie anders beurtheilen: nicht wenn er wollte, sondern wenn seine Erkenntniss grösser und weiter gewesen wäre, so hätte er es können. Die Berich- tigung und Verbesserung der Einsicht bleibt daher das alleinige Wünschenswerthe: um ein klügeres und also dem Subjecte besseres Handeln zu bewirken. Durch das unbe- fangene, rechnende Denken wird der Mensch frei, nämlich von den Impulsen, Gefühlen, Leidenschaften, Vorurtheilen, welche ihn sonst zu beherrschen scheinen, frei. So nimmt denn, mit steigendem Alter, die Leidenschaft der Liebe und Freundschaft ab, auch Hass und Zorn und Feindschaft. Aber freilich: in weitem Umfange werden doch diese selbigen Empfindungen erst lebendig durch die Bedingungen vermehrter Jahre: wie die Geschlechtsliebe, und ihr Correlat, die Eifersucht. Ferner _ird erst durch die Dauer der Zu- stände Gewohnheit und das bleibende, wachsende Gefühl ihres Werthes eine mächtige Potenz, welche Menschen an Menschen knüpft. Vollends gilt dasselbe, wenn die intellec- tuelle Entwicklung und Reife in Betracht genommen wird. Daher wird der Leidenschaftliche, sofern seine Leiden- schaften Begierden sind und auf ihre Befriedigung und Stillung nothwendiger Weise ausgehen, leichter und mit minderer Rücksicht auf andere Motive, die in ihm noch schwach sind und ihn weniger hemmen, seine vorhandene Fähigkeit zu listigem, Pläne machendem Denken anwenden können; also der Junge eher als der Alte. Auch wird er leichter Gefahren für Leib und Leben auf sich nehmen, um seine Zwecke zu erreichen, da ihm der jugendliche Muth,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/211
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/211>, abgerufen am 28.03.2024.