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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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frei steht, schon darum nicht geben und erlauben kann,
weil er es nicht hat; der aber allen Uebertretungen
wehrt, insofern als sie wider seine Bestimmungen sind;
sondern es ist wenigstens zugleich eine Gestaltung des
eigenen Wesenwillens, welche mit dem gemeinschaftlichen
Willen übereinstimmt, gegen eine Gestaltung desselben
Wesenwillens, oder gegen die Willkür, welche in eine
andere Richtung strebt. Scham ist hier entweder die mit
Schmerz empfundene eigene Missbilligung und die der
Genossen oder die Furcht davor, gleich jeder Furcht ein
vorausgefühlter Schmerz. Als Schmerz aber ist sie eine
Verminderung der eigenen Kraft, ist empfundene Ohnmacht,
Geringheit: darum wer der Schande theilhaftig wird, findet
sich als Erniedrigten, Verletzten, Besudelten; die Heilheit
und Schönheit seines geistigen Leibes, seiner Ehre, ist
nicht mehr unversehrt: denn diese wird als Realität em-
pfunden und gedacht, da sie der Wesenwille selber ist, in-
sofern als derselbe Antheil hat an dem Guten, welches in
einer Gemeinschaft geglaubt wird, als er mithin gut ist,
und durch sein Sein auch gut erscheinen muss. Folglich:
wer das Schändliche thut, thut es sich selber zuwider. Dies
ist die ursprüngliche und auch die ausgebildete Idee der
Moralität, bis etwa der Mensch als Individuum und als
blosses Subject seiner Willkür vorgestellt wird. Solcher
natürlicher Grund kann auch so bezeichnet werden: Nie-
mand mag in üblem Geruche stehen, er ist dadurch sich
selber ekelhaft und ein Schlechterer; ja, die sinnliche Be-
deutung dieses Wortes enthüllt den Kern derjenigen Ver-
richtungen, auf welche das Schamgefühl ursprünglicher
Weise sich bezogen hat und noch bezieht. Die Umkehrung,
in welcher moralische Begriffe conventionell werden und
erstarren, sagt: im gesellschaftlichen Leben, welches dir
nützlich, ja für deine Zwecke nothwendig ist, musst du
deine Freiheit aus Rücksicht auf die Freiheiten der Anderen
einschränken, insonderheit aber, um dein Gebiet zu be-
wahren und etwan auch zu erweitern, in ihrer Achtung und
Furcht, als den Meinungen von deiner Stärke, dich erhalten,
darum auch moralisch gut und edel, ehrlich und gerecht
scheinen, wenn einmal und so lange als auf den Schein

frei steht, schon darum nicht geben und erlauben kann,
weil er es nicht hat; der aber allen Uebertretungen
wehrt, insofern als sie wider seine Bestimmungen sind;
sondern es ist wenigstens zugleich eine Gestaltung des
eigenen Wesenwillens, welche mit dem gemeinschaftlichen
Willen übereinstimmt, gegen eine Gestaltung desselben
Wesenwillens, oder gegen die Willkür, welche in eine
andere Richtung strebt. Scham ist hier entweder die mit
Schmerz empfundene eigene Missbilligung und die der
Genossen oder die Furcht davor, gleich jeder Furcht ein
vorausgefühlter Schmerz. Als Schmerz aber ist sie eine
Verminderung der eigenen Kraft, ist empfundene Ohnmacht,
Geringheit: darum wer der Schande theilhaftig wird, findet
sich als Erniedrigten, Verletzten, Besudelten; die Heilheit
und Schönheit seines geistigen Leibes, seiner Ehre, ist
nicht mehr unversehrt: denn diese wird als Realität em-
pfunden und gedacht, da sie der Wesenwille selber ist, in-
sofern als derselbe Antheil hat an dem Guten, welches in
einer Gemeinschaft geglaubt wird, als er mithin gut ist,
und durch sein Sein auch gut erscheinen muss. Folglich:
wer das Schändliche thut, thut es sich selber zuwider. Dies
ist die ursprüngliche und auch die ausgebildete Idee der
Moralität, bis etwa der Mensch als Individuum und als
blosses Subject seiner Willkür vorgestellt wird. Solcher
natürlicher Grund kann auch so bezeichnet werden: Nie-
mand mag in üblem Geruche stehen, er ist dadurch sich
selber ekelhaft und ein Schlechterer; ja, die sinnliche Be-
deutung dieses Wortes enthüllt den Kern derjenigen Ver-
richtungen, auf welche das Schamgefühl ursprünglicher
Weise sich bezogen hat und noch bezieht. Die Umkehrung,
in welcher moralische Begriffe conventionell werden und
erstarren, sagt: im gesellschaftlichen Leben, welches dir
nützlich, ja für deine Zwecke nothwendig ist, musst du
deine Freiheit aus Rücksicht auf die Freiheiten der Anderen
einschränken, insonderheit aber, um dein Gebiet zu be-
wahren und etwan auch zu erweitern, in ihrer Achtung und
Furcht, als den Meinungen von deiner Stärke, dich erhalten,
darum auch moralisch gut und edel, ehrlich und gerecht
scheinen, wenn einmal und so lange als auf den Schein

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[180/0216] frei steht, schon darum nicht geben und erlauben kann, weil er es nicht hat; der aber allen Uebertretungen wehrt, insofern als sie wider seine Bestimmungen sind; sondern es ist wenigstens zugleich eine Gestaltung des eigenen Wesenwillens, welche mit dem gemeinschaftlichen Willen übereinstimmt, gegen eine Gestaltung desselben Wesenwillens, oder gegen die Willkür, welche in eine andere Richtung strebt. Scham ist hier entweder die mit Schmerz empfundene eigene Missbilligung und die der Genossen oder die Furcht davor, gleich jeder Furcht ein vorausgefühlter Schmerz. Als Schmerz aber ist sie eine Verminderung der eigenen Kraft, ist empfundene Ohnmacht, Geringheit: darum wer der Schande theilhaftig wird, findet sich als Erniedrigten, Verletzten, Besudelten; die Heilheit und Schönheit seines geistigen Leibes, seiner Ehre, ist nicht mehr unversehrt: denn diese wird als Realität em- pfunden und gedacht, da sie der Wesenwille selber ist, in- sofern als derselbe Antheil hat an dem Guten, welches in einer Gemeinschaft geglaubt wird, als er mithin gut ist, und durch sein Sein auch gut erscheinen muss. Folglich: wer das Schändliche thut, thut es sich selber zuwider. Dies ist die ursprüngliche und auch die ausgebildete Idee der Moralität, bis etwa der Mensch als Individuum und als blosses Subject seiner Willkür vorgestellt wird. Solcher natürlicher Grund kann auch so bezeichnet werden: Nie- mand mag in üblem Geruche stehen, er ist dadurch sich selber ekelhaft und ein Schlechterer; ja, die sinnliche Be- deutung dieses Wortes enthüllt den Kern derjenigen Ver- richtungen, auf welche das Schamgefühl ursprünglicher Weise sich bezogen hat und noch bezieht. Die Umkehrung, in welcher moralische Begriffe conventionell werden und erstarren, sagt: im gesellschaftlichen Leben, welches dir nützlich, ja für deine Zwecke nothwendig ist, musst du deine Freiheit aus Rücksicht auf die Freiheiten der Anderen einschränken, insonderheit aber, um dein Gebiet zu be- wahren und etwan auch zu erweitern, in ihrer Achtung und Furcht, als den Meinungen von deiner Stärke, dich erhalten, darum auch moralisch gut und edel, ehrlich und gerecht scheinen, wenn einmal und so lange als auf den Schein

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/216>, abgerufen am 20.04.2024.