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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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werden erst allmählich unterschieden und jedes besonders
ausgebildet, und doch behält das eigentlich Rednerische
immer von den Intervallen und Cadenzen des Singens Vieles
übrig. (Dass aber die Sprache schlechthin, das natürliche
Verständniss des Inhaltes von Worten durch Mutterliebe
sei erfunden worden, haben wir schon zu vermuthen wagen
dürfen. Am mächtigsten gefördert, würde wohl richtiger
sein zu sagen; denn auch die Geschlechtsliebe hat einen
heftigen Antheil daran, schon von der Thierwelt her [man
erinnere sich des Darwin'schen Werkes], ja an dem Musi-
kalischen und eigentlich Pathetischen von Gesang und Rede
einen grösseren. Und eine wie viel schwerere, heiligere
Angelegenheit ist für die Frau solche Liebe als dem stre-
benden Jüngling. Auch die Schwesterliebe ist mittheilsam,
redselig, phantastisch. Und so ist überhaupt das Weib als
gesprächig oder geschwätzig von je berufen; wenn auch
viele sinnige es gibt, die im Denken geschwinder sind und
Schweigen für ihre Zier halten.) Unter den bildenden
Künsten -- welchem Ausdruck eine weite Bedeutung ge-
lassen werde -- sind die textilen, wie bekannt, schon
durch ihre häusliche Bestimmung dem weiblichen Sinne
am nächsten; eine Art der Arbeit, bei welcher das nahe
Gesicht, die emsige Sorgfalt, die genaue Wiederholung eines
Musters, treue geduldige Anhänglichkeit an überlieferten
Stil, aber auch die Freiheit in Erfindung und Darstellung
zierlicher Formen, bedeutungsloser Schnörkel, und die ganze
Intensität eines auf das Warme, Zarte, Behagliche gerich-
teten Geschmackes, lauter Tugenden und Freuden der
Frauenseele sind. So ist ihr auch die Abbildung des
Wirklichen, Gefallenden, Bewunderten, zumal diejenige
leibhaftig-lieber und schöner Gestalten, und zur Bewahrung
des Andenkens für die Anschauung ein rechtes
Liebewerk, wie denn die überaus feine hellenische Legende
von der Erfindung des Portraitmalens bekannt ist. Denn
freilich findet mit der schattenhaften Projection von Formen
in die Ebene -- wovon auch die Schreibekunst abstammt
-- das weibliche Genie seine Schranken, da Plastik wie
Tektonik eine massivere, bewusstere Phantasie und eine
stärkere Herrschaft über die Widerstände der Stoffe er-
fordern.

werden erst allmählich unterschieden und jedes besonders
ausgebildet, und doch behält das eigentlich Rednerische
immer von den Intervallen und Cadenzen des Singens Vieles
übrig. (Dass aber die Sprache schlechthin, das natürliche
Verständniss des Inhaltes von Worten durch Mutterliebe
sei erfunden worden, haben wir schon zu vermuthen wagen
dürfen. Am mächtigsten gefördert, würde wohl richtiger
sein zu sagen; denn auch die Geschlechtsliebe hat einen
heftigen Antheil daran, schon von der Thierwelt her [man
erinnere sich des Darwin’schen Werkes], ja an dem Musi-
kalischen und eigentlich Pathetischen von Gesang und Rede
einen grösseren. Und eine wie viel schwerere, heiligere
Angelegenheit ist für die Frau solche Liebe als dem stre-
benden Jüngling. Auch die Schwesterliebe ist mittheilsam,
redselig, phantastisch. Und so ist überhaupt das Weib als
gesprächig oder geschwätzig von je berufen; wenn auch
viele sinnige es gibt, die im Denken geschwinder sind und
Schweigen für ihre Zier halten.) Unter den bildenden
Künsten — welchem Ausdruck eine weite Bedeutung ge-
lassen werde — sind die textilen, wie bekannt, schon
durch ihre häusliche Bestimmung dem weiblichen Sinne
am nächsten; eine Art der Arbeit, bei welcher das nahe
Gesicht, die emsige Sorgfalt, die genaue Wiederholung eines
Musters, treue geduldige Anhänglichkeit an überlieferten
Stil, aber auch die Freiheit in Erfindung und Darstellung
zierlicher Formen, bedeutungsloser Schnörkel, und die ganze
Intensität eines auf das Warme, Zarte, Behagliche gerich-
teten Geschmackes, lauter Tugenden und Freuden der
Frauenseele sind. So ist ihr auch die Abbildung des
Wirklichen, Gefallenden, Bewunderten, zumal diejenige
leibhaftig-lieber und schöner Gestalten, und zur Bewahrung
des Andenkens für die Anschauung ein rechtes
Liebewerk, wie denn die überaus feine hellenische Legende
von der Erfindung des Portraitmalens bekannt ist. Denn
freilich findet mit der schattenhaften Projection von Formen
in die Ebene — wovon auch die Schreibekunst abstammt
— das weibliche Genie seine Schranken, da Plastik wie
Tektonik eine massivere, bewusstere Phantasie und eine
stärkere Herrschaft über die Widerstände der Stoffe er-
fordern.

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[185/0221] werden erst allmählich unterschieden und jedes besonders ausgebildet, und doch behält das eigentlich Rednerische immer von den Intervallen und Cadenzen des Singens Vieles übrig. (Dass aber die Sprache schlechthin, das natürliche Verständniss des Inhaltes von Worten durch Mutterliebe sei erfunden worden, haben wir schon zu vermuthen wagen dürfen. Am mächtigsten gefördert, würde wohl richtiger sein zu sagen; denn auch die Geschlechtsliebe hat einen heftigen Antheil daran, schon von der Thierwelt her [man erinnere sich des Darwin’schen Werkes], ja an dem Musi- kalischen und eigentlich Pathetischen von Gesang und Rede einen grösseren. Und eine wie viel schwerere, heiligere Angelegenheit ist für die Frau solche Liebe als dem stre- benden Jüngling. Auch die Schwesterliebe ist mittheilsam, redselig, phantastisch. Und so ist überhaupt das Weib als gesprächig oder geschwätzig von je berufen; wenn auch viele sinnige es gibt, die im Denken geschwinder sind und Schweigen für ihre Zier halten.) Unter den bildenden Künsten — welchem Ausdruck eine weite Bedeutung ge- lassen werde — sind die textilen, wie bekannt, schon durch ihre häusliche Bestimmung dem weiblichen Sinne am nächsten; eine Art der Arbeit, bei welcher das nahe Gesicht, die emsige Sorgfalt, die genaue Wiederholung eines Musters, treue geduldige Anhänglichkeit an überlieferten Stil, aber auch die Freiheit in Erfindung und Darstellung zierlicher Formen, bedeutungsloser Schnörkel, und die ganze Intensität eines auf das Warme, Zarte, Behagliche gerich- teten Geschmackes, lauter Tugenden und Freuden der Frauenseele sind. So ist ihr auch die Abbildung des Wirklichen, Gefallenden, Bewunderten, zumal diejenige leibhaftig-lieber und schöner Gestalten, und zur Bewahrung des Andenkens für die Anschauung ein rechtes Liebewerk, wie denn die überaus feine hellenische Legende von der Erfindung des Portraitmalens bekannt ist. Denn freilich findet mit der schattenhaften Projection von Formen in die Ebene — wovon auch die Schreibekunst abstammt — das weibliche Genie seine Schranken, da Plastik wie Tektonik eine massivere, bewusstere Phantasie und eine stärkere Herrschaft über die Widerstände der Stoffe er- fordern.

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/221>, abgerufen am 18.04.2024.