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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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dass dieser innere Widerstand überwunden wird, und das
Ergebniss wird dann nie, gegenüber der Vorstellung einer
bestimmten proponirten Handlung, = 0 sein, sondern ent-
weder Bejahung oder Verneinung. Hingegen eine Menge
ist in diesem Sinne nur dann fortwährend beschlussfähig,
wenn ihre Anzahl eine ungerade ist: dass dieses der Fall
sei, darum eine nothwendige Forderung an ihren Begriff,
wenn sie insoweit einem Einzigen gleich sein soll. Eine
solche Menge nun, welche willens und fähig ist, als eine
Einheit zu beschliessen, heisst eine Versammlung. Sie
kann auch, nach Art des einzelnen Menschen, ein dauern-
des Dasein haben, sofern sie: 1) ideell immer zusammen-
bleibt, für ihre wirklichen Berathungen aber nach bestimm-
ten (und bekannten) Regeln zusammenkommt oder zusammen-
gerufen wird; 2) wenn es nöthig ist, sich ergänzt oder
ergänzt wird. -- Nun ist jeder einzelne Mensch der natür-
liche Repräsentant seiner eigenen Person. Der Begriff der
Person kann von keinen anderen empirischen Subjecten ab-
gezogen werden, ausser von den einzelnen Menschen, welche
begriffen werden, insofern als jeder ein Denkender und in
Gedanken Wollender in Wahrheit ist, und folglich gibt es
insoweit wirkliche und natürliche Personen, als Menschen
vorhanden sind, welche sich als solche vorstellen, diese
"Rolle" übernehmen und spielen, oder den "Charakter" einer
Person wie eine Maske vor ihr Antlitz halten. Und als
natürliche Personen sind alle Menschen einander gleich.
Jeder ist mit unbeschränkter Freiheit ausgestattet, beliebige
Zwecke sich zu setzen, beliebige Mittel anzuwenden. Jeder
ist sein eigener Herr. Keiner des Anderen Herr. Sie sind
unabhängig von einander.

§ 3.

Auch eine Versammlung repräsentirt ihre eigene Person.
Aber dieser ihr Dasein ist keineswegs ein empirisch gegebenes
in dem Sinne, wie es von den Personen der einzelnen, sinn-
lich wahrnehmbaren Menschen mit Grund gesagt werden
kann. Die Wirklichkeit der Versammlung setzt die Wirk-
lichkeit der von ihr dargestellten Person voraus, während
im Gegentheil aus der Wirklichkeit des Menschen die Vor-

dass dieser innere Widerstand überwunden wird, und das
Ergebniss wird dann nie, gegenüber der Vorstellung einer
bestimmten proponirten Handlung, = 0 sein, sondern ent-
weder Bejahung oder Verneinung. Hingegen eine Menge
ist in diesem Sinne nur dann fortwährend beschlussfähig,
wenn ihre Anzahl eine ungerade ist: dass dieses der Fall
sei, darum eine nothwendige Forderung an ihren Begriff,
wenn sie insoweit einem Einzigen gleich sein soll. Eine
solche Menge nun, welche willens und fähig ist, als eine
Einheit zu beschliessen, heisst eine Versammlung. Sie
kann auch, nach Art des einzelnen Menschen, ein dauern-
des Dasein haben, sofern sie: 1) ideell immer zusammen-
bleibt, für ihre wirklichen Berathungen aber nach bestimm-
ten (und bekannten) Regeln zusammenkommt oder zusammen-
gerufen wird; 2) wenn es nöthig ist, sich ergänzt oder
ergänzt wird. — Nun ist jeder einzelne Mensch der natür-
liche Repräsentant seiner eigenen Person. Der Begriff der
Person kann von keinen anderen empirischen Subjecten ab-
gezogen werden, ausser von den einzelnen Menschen, welche
begriffen werden, insofern als jeder ein Denkender und in
Gedanken Wollender in Wahrheit ist, und folglich gibt es
insoweit wirkliche und natürliche Personen, als Menschen
vorhanden sind, welche sich als solche vorstellen, diese
»Rolle« übernehmen und spielen, oder den »Charakter« einer
Person wie eine Maske vor ihr Antlitz halten. Und als
natürliche Personen sind alle Menschen einander gleich.
Jeder ist mit unbeschränkter Freiheit ausgestattet, beliebige
Zwecke sich zu setzen, beliebige Mittel anzuwenden. Jeder
ist sein eigener Herr. Keiner des Anderen Herr. Sie sind
unabhängig von einander.

§ 3.

Auch eine Versammlung repräsentirt ihre eigene Person.
Aber dieser ihr Dasein ist keineswegs ein empirisch gegebenes
in dem Sinne, wie es von den Personen der einzelnen, sinn-
lich wahrnehmbaren Menschen mit Grund gesagt werden
kann. Die Wirklichkeit der Versammlung setzt die Wirk-
lichkeit der von ihr dargestellten Person voraus, während
im Gegentheil aus der Wirklichkeit des Menschen die Vor-

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[203/0239] dass dieser innere Widerstand überwunden wird, und das Ergebniss wird dann nie, gegenüber der Vorstellung einer bestimmten proponirten Handlung, = 0 sein, sondern ent- weder Bejahung oder Verneinung. Hingegen eine Menge ist in diesem Sinne nur dann fortwährend beschlussfähig, wenn ihre Anzahl eine ungerade ist: dass dieses der Fall sei, darum eine nothwendige Forderung an ihren Begriff, wenn sie insoweit einem Einzigen gleich sein soll. Eine solche Menge nun, welche willens und fähig ist, als eine Einheit zu beschliessen, heisst eine Versammlung. Sie kann auch, nach Art des einzelnen Menschen, ein dauern- des Dasein haben, sofern sie: 1) ideell immer zusammen- bleibt, für ihre wirklichen Berathungen aber nach bestimm- ten (und bekannten) Regeln zusammenkommt oder zusammen- gerufen wird; 2) wenn es nöthig ist, sich ergänzt oder ergänzt wird. — Nun ist jeder einzelne Mensch der natür- liche Repräsentant seiner eigenen Person. Der Begriff der Person kann von keinen anderen empirischen Subjecten ab- gezogen werden, ausser von den einzelnen Menschen, welche begriffen werden, insofern als jeder ein Denkender und in Gedanken Wollender in Wahrheit ist, und folglich gibt es insoweit wirkliche und natürliche Personen, als Menschen vorhanden sind, welche sich als solche vorstellen, diese »Rolle« übernehmen und spielen, oder den »Charakter« einer Person wie eine Maske vor ihr Antlitz halten. Und als natürliche Personen sind alle Menschen einander gleich. Jeder ist mit unbeschränkter Freiheit ausgestattet, beliebige Zwecke sich zu setzen, beliebige Mittel anzuwenden. Jeder ist sein eigener Herr. Keiner des Anderen Herr. Sie sind unabhängig von einander. § 3. Auch eine Versammlung repräsentirt ihre eigene Person. Aber dieser ihr Dasein ist keineswegs ein empirisch gegebenes in dem Sinne, wie es von den Personen der einzelnen, sinn- lich wahrnehmbaren Menschen mit Grund gesagt werden kann. Die Wirklichkeit der Versammlung setzt die Wirk- lichkeit der von ihr dargestellten Person voraus, während im Gegentheil aus der Wirklichkeit des Menschen die Vor-

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/239>, abgerufen am 19.04.2024.