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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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gegebenen Begriffen enthalten derjenige, welchen man neuer-
dings oft als die Opposition der rechtlichen Formen des
Status gegen diejenigen des Contracts behandelt hat. Die
Stelle des gelehrten und einsichtigen englischen Autors,
von welcher ein weitgehender Anstoss zu dieser Auffassung
sich vorbereitet hat, verdient hier (als bisher nicht in's
Deutsche übertragen) angeführt zu werden. "Die Bewegung
der progressiven Gesellschaften", sagt in zusammenfassender
Betrachtung Sir Henry Maine (Ancient Law, p. 168
7th ed.)
"ist in einer Hinsicht gleichförmig gewesen. In
ihrem ganzen Verlaufe wird sie bezeichnet durch die stufen-
weise Auflösung des Familien-Zusammenhanges und das
Wachsthum individueller Obligation an seiner Stelle. Das
Individuum wird fortwährend eingesetzt für die Familie, als
die Einheit, welche das bürgerliche Recht zu Grunde legt.
Dieser Fortschritt hat sich vollzogen in verschiedenen Ver-
hältnissen der Geschwindigkeit, und es gibt Culturen, die
nicht schlechthin stationär sind, in welchen doch der Ver-
fall der ursprünglichen Organisation nur durch sorgfältiges
Studium der Erscheinungen, welche sie darbieten, entdeckt
werden kann ... Es ist aber nicht schwer zu sehen, wel-
ches das Band ist zwischen Menschen und Menschen, das
allmählich jene Formen der Reciprocität von Gerechtsamen
und Verpflichtungen ersetzt, die ihren Ursprung in der Fa-
milie haben: kein anderes als Contract. Wenn wir, als
von einem Endpunkte der Geschichte, ausgehen von einem
socialen Zustande, in welchem alle Beziehungen der Per-
sonen in den Beziehungen der Familie vereinigt sind, so
scheinen wir uns stetig auf eine Phase der socialen Ordnung
hinbewegt zu haben, in welcher alle diese Beziehungen aus
der freien Uebereinstimmung von Individuen entspringen.
Im westlichen Europa ist der in dieser Richtung vollendete
Fortschritt beträchtlich gewesen. So ist der Stand des
Sklaven verschwunden -- er ist verdrängt worden durch
die contractliche Beziehung des Dienstboten zu seiner Herr-
schaft, des Arbeiters zum Unternehmer. Der Stand der
Frau unter Vormundschaft, ausserhalb der ehelichen Vor-
mundschaft, hat ebenfalls aufgehört zu existiren; von ihrer
Altersreife bis zu ihrer Heirath sind alle Beziehungen, welche

gegebenen Begriffen enthalten derjenige, welchen man neuer-
dings oft als die Opposition der rechtlichen Formen des
Status gegen diejenigen des Contracts behandelt hat. Die
Stelle des gelehrten und einsichtigen englischen Autors,
von welcher ein weitgehender Anstoss zu dieser Auffassung
sich vorbereitet hat, verdient hier (als bisher nicht in’s
Deutsche übertragen) angeführt zu werden. »Die Bewegung
der progressiven Gesellschaften«, sagt in zusammenfassender
Betrachtung Sir Henry Maine (Ancient Law, p. 168
7th ed.)
»ist in einer Hinsicht gleichförmig gewesen. In
ihrem ganzen Verlaufe wird sie bezeichnet durch die stufen-
weise Auflösung des Familien-Zusammenhanges und das
Wachsthum individueller Obligation an seiner Stelle. Das
Individuum wird fortwährend eingesetzt für die Familie, als
die Einheit, welche das bürgerliche Recht zu Grunde legt.
Dieser Fortschritt hat sich vollzogen in verschiedenen Ver-
hältnissen der Geschwindigkeit, und es gibt Culturen, die
nicht schlechthin stationär sind, in welchen doch der Ver-
fall der ursprünglichen Organisation nur durch sorgfältiges
Studium der Erscheinungen, welche sie darbieten, entdeckt
werden kann … Es ist aber nicht schwer zu sehen, wel-
ches das Band ist zwischen Menschen und Menschen, das
allmählich jene Formen der Reciprocität von Gerechtsamen
und Verpflichtungen ersetzt, die ihren Ursprung in der Fa-
milie haben: kein anderes als Contract. Wenn wir, als
von einem Endpunkte der Geschichte, ausgehen von einem
socialen Zustande, in welchem alle Beziehungen der Per-
sonen in den Beziehungen der Familie vereinigt sind, so
scheinen wir uns stetig auf eine Phase der socialen Ordnung
hinbewegt zu haben, in welcher alle diese Beziehungen aus
der freien Uebereinstimmung von Individuen entspringen.
Im westlichen Europa ist der in dieser Richtung vollendete
Fortschritt beträchtlich gewesen. So ist der Stand des
Sklaven verschwunden — er ist verdrängt worden durch
die contractliche Beziehung des Dienstboten zu seiner Herr-
schaft, des Arbeiters zum Unternehmer. Der Stand der
Frau unter Vormundschaft, ausserhalb der ehelichen Vor-
mundschaft, hat ebenfalls aufgehört zu existiren; von ihrer
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[213/0249] gegebenen Begriffen enthalten derjenige, welchen man neuer- dings oft als die Opposition der rechtlichen Formen des Status gegen diejenigen des Contracts behandelt hat. Die Stelle des gelehrten und einsichtigen englischen Autors, von welcher ein weitgehender Anstoss zu dieser Auffassung sich vorbereitet hat, verdient hier (als bisher nicht in’s Deutsche übertragen) angeführt zu werden. »Die Bewegung der progressiven Gesellschaften«, sagt in zusammenfassender Betrachtung Sir Henry Maine (Ancient Law, p. 168 7th ed.) »ist in einer Hinsicht gleichförmig gewesen. In ihrem ganzen Verlaufe wird sie bezeichnet durch die stufen- weise Auflösung des Familien-Zusammenhanges und das Wachsthum individueller Obligation an seiner Stelle. Das Individuum wird fortwährend eingesetzt für die Familie, als die Einheit, welche das bürgerliche Recht zu Grunde legt. Dieser Fortschritt hat sich vollzogen in verschiedenen Ver- hältnissen der Geschwindigkeit, und es gibt Culturen, die nicht schlechthin stationär sind, in welchen doch der Ver- fall der ursprünglichen Organisation nur durch sorgfältiges Studium der Erscheinungen, welche sie darbieten, entdeckt werden kann … Es ist aber nicht schwer zu sehen, wel- ches das Band ist zwischen Menschen und Menschen, das allmählich jene Formen der Reciprocität von Gerechtsamen und Verpflichtungen ersetzt, die ihren Ursprung in der Fa- milie haben: kein anderes als Contract. Wenn wir, als von einem Endpunkte der Geschichte, ausgehen von einem socialen Zustande, in welchem alle Beziehungen der Per- sonen in den Beziehungen der Familie vereinigt sind, so scheinen wir uns stetig auf eine Phase der socialen Ordnung hinbewegt zu haben, in welcher alle diese Beziehungen aus der freien Uebereinstimmung von Individuen entspringen. Im westlichen Europa ist der in dieser Richtung vollendete Fortschritt beträchtlich gewesen. So ist der Stand des Sklaven verschwunden — er ist verdrängt worden durch die contractliche Beziehung des Dienstboten zu seiner Herr- schaft, des Arbeiters zum Unternehmer. Der Stand der Frau unter Vormundschaft, ausserhalb der ehelichen Vor- mundschaft, hat ebenfalls aufgehört zu existiren; von ihrer Altersreife bis zu ihrer Heirath sind alle Beziehungen, welche

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/249>, abgerufen am 25.04.2024.