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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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in jedem Sinne, nichts als gemeinsamer Wille; es ist in die-
sem Sinne, als natürliches Recht, die Form oder der
Geist schlechthin, derjenigen Verhältnisse, deren Materie das
Zusammenleben, oder, im allgemeinsten Ausdrucke, der
Connex von Willens-Sphären ist; so jedoch, dass dieselbige
Form auf der einen Seite als die nothwendige Einheit der
Willen und Willenssphären oder als Emanation aus solcher
Einheit gedacht wird, mithin als so real wie die Materie,
deren subjective (psychische oder metaphysische) Erscheinung
sie ist -- auch wenn jene (die Materie) als blosses Product
des einheitlichen oder harmonischen Gedächtnisses, socialer
Phantasie, begriffen wird (in dem Sinne, in welchem man
von der dichtenden, schaffenden Volks-Seele auch wissen-
schaftlich geredet hat), -- auf der anderen aber als zu der-
gleichen, nur durch Denken existirenden Materie, aus den
Willkürsphären hinzugefügte Form, die blosse Erschei-
nung einer bestimmten Zusammensetzung derselben.
Die allgemeine und einfache Thatsache ist dort die Ver-
bundenheit der Leiber, welche als beständige vorgestellt
wird, wenn das Volk spricht: "Mann und Weib sind Ein
Leib". Sie ist mithin an und für sich verbundener Wesen-
wille = natürliches Recht: die Form der ehelichen und
aller derartigen Thatsachen, welche als eine organisch an-
gelegte Materie gedacht werden. Hier ist die einfache und
elementare Thatsache der Eigenthums-Wechsel oder Aus-
tausch von Sachen, welcher in zahlreichen Fällen ganz und
gar indifferent ist, immer aber ein blos mechanischer Vor-
gang, Bewegung dessen, was schon vorhanden, und seine
Bedeutung nur durch die Absichten und Berechnungen der
Personen erhält, welche ihn vollziehen und denken. Ihre
bestimmte Willkür macht ihn erst zum rechtlichen Vor-
gang, setzt die Form des Rechtes, welche "natürlich" heissen
darf, weil sie innerhalb dieser ihrer Art das einfachste und
schlechthin rationale Gebilde darstellt. Da aber jede solche
gemeinsame Willkür durch Contract, also dieses Recht, an
und für sich gedacht, nur für seine Subjecte vorhanden ist
-- als ihnen zusammen eigener Gedanke oder Begriff -- so
bedarf es, um zu einer quasi-objectiven Existenz zu ge-
langen, der allgemeinen Willkür als anerkennender, be-

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 15

in jedem Sinne, nichts als gemeinsamer Wille; es ist in die-
sem Sinne, als natürliches Recht, die Form oder der
Geist schlechthin, derjenigen Verhältnisse, deren Materie das
Zusammenleben, oder, im allgemeinsten Ausdrucke, der
Connex von Willens-Sphären ist; so jedoch, dass dieselbige
Form auf der einen Seite als die nothwendige Einheit der
Willen und Willenssphären oder als Emanation aus solcher
Einheit gedacht wird, mithin als so real wie die Materie,
deren subjective (psychische oder metaphysische) Erscheinung
sie ist — auch wenn jene (die Materie) als blosses Product
des einheitlichen oder harmonischen Gedächtnisses, socialer
Phantasie, begriffen wird (in dem Sinne, in welchem man
von der dichtenden, schaffenden Volks-Seele auch wissen-
schaftlich geredet hat), — auf der anderen aber als zu der-
gleichen, nur durch Denken existirenden Materie, aus den
Willkürsphären hinzugefügte Form, die blosse Erschei-
nung einer bestimmten Zusammensetzung derselben.
Die allgemeine und einfache Thatsache ist dort die Ver-
bundenheit der Leiber, welche als beständige vorgestellt
wird, wenn das Volk spricht: »Mann und Weib sind Ein
Leib«. Sie ist mithin an und für sich verbundener Wesen-
wille = natürliches Recht: die Form der ehelichen und
aller derartigen Thatsachen, welche als eine organisch an-
gelegte Materie gedacht werden. Hier ist die einfache und
elementare Thatsache der Eigenthums-Wechsel oder Aus-
tausch von Sachen, welcher in zahlreichen Fällen ganz und
gar indifferent ist, immer aber ein blos mechanischer Vor-
gang, Bewegung dessen, was schon vorhanden, und seine
Bedeutung nur durch die Absichten und Berechnungen der
Personen erhält, welche ihn vollziehen und denken. Ihre
bestimmte Willkür macht ihn erst zum rechtlichen Vor-
gang, setzt die Form des Rechtes, welche »natürlich« heissen
darf, weil sie innerhalb dieser ihrer Art das einfachste und
schlechthin rationale Gebilde darstellt. Da aber jede solche
gemeinsame Willkür durch Contract, also dieses Recht, an
und für sich gedacht, nur für seine Subjecte vorhanden ist
— als ihnen zusammen eigener Gedanke oder Begriff — so
bedarf es, um zu einer quasi-objectiven Existenz zu ge-
langen, der allgemeinen Willkür als anerkennender, be-

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 15
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[225/0261] in jedem Sinne, nichts als gemeinsamer Wille; es ist in die- sem Sinne, als natürliches Recht, die Form oder der Geist schlechthin, derjenigen Verhältnisse, deren Materie das Zusammenleben, oder, im allgemeinsten Ausdrucke, der Connex von Willens-Sphären ist; so jedoch, dass dieselbige Form auf der einen Seite als die nothwendige Einheit der Willen und Willenssphären oder als Emanation aus solcher Einheit gedacht wird, mithin als so real wie die Materie, deren subjective (psychische oder metaphysische) Erscheinung sie ist — auch wenn jene (die Materie) als blosses Product des einheitlichen oder harmonischen Gedächtnisses, socialer Phantasie, begriffen wird (in dem Sinne, in welchem man von der dichtenden, schaffenden Volks-Seele auch wissen- schaftlich geredet hat), — auf der anderen aber als zu der- gleichen, nur durch Denken existirenden Materie, aus den Willkürsphären hinzugefügte Form, die blosse Erschei- nung einer bestimmten Zusammensetzung derselben. Die allgemeine und einfache Thatsache ist dort die Ver- bundenheit der Leiber, welche als beständige vorgestellt wird, wenn das Volk spricht: »Mann und Weib sind Ein Leib«. Sie ist mithin an und für sich verbundener Wesen- wille = natürliches Recht: die Form der ehelichen und aller derartigen Thatsachen, welche als eine organisch an- gelegte Materie gedacht werden. Hier ist die einfache und elementare Thatsache der Eigenthums-Wechsel oder Aus- tausch von Sachen, welcher in zahlreichen Fällen ganz und gar indifferent ist, immer aber ein blos mechanischer Vor- gang, Bewegung dessen, was schon vorhanden, und seine Bedeutung nur durch die Absichten und Berechnungen der Personen erhält, welche ihn vollziehen und denken. Ihre bestimmte Willkür macht ihn erst zum rechtlichen Vor- gang, setzt die Form des Rechtes, welche »natürlich« heissen darf, weil sie innerhalb dieser ihrer Art das einfachste und schlechthin rationale Gebilde darstellt. Da aber jede solche gemeinsame Willkür durch Contract, also dieses Recht, an und für sich gedacht, nur für seine Subjecte vorhanden ist — als ihnen zusammen eigener Gedanke oder Begriff — so bedarf es, um zu einer quasi-objectiven Existenz zu ge- langen, der allgemeinen Willkür als anerkennender, be- Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 15

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/261>, abgerufen am 23.04.2024.