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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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bilden können -- wenn sie nur wollen; dass also, ausser-
halb aller durch eigene Willkür übernommener Verpflich-
tungen, geschlossener Verträge, eingegangener Verhältnisse,
Jeder vollkommene Freiheit habe und behalte. Dieser Frei-
heit war aber nicht blos ein Institut wie die Knechtschaft
entgegen, sondern auch die väterliche Gewalt (ausser über
Kinder und Wahnwitzige) und alle Gesetze, welche in einer
gegebenen Stadt, z. B. in Rom, dem eingeborenen Bürger
und seinem Eigenthum Standesvorrechte vor dem Fremden
verliehen. Insofern als die begriffliche in zeitliche Folge
umgesetzt ward, so schien es, als habe die Willkür von
Gesetzgebern alle diese Schranken aufgerichtet wider die
Natur. Und doch vermochte sich gegen das Fundament
dieser Ansicht, als ob die Menschen von Natur und ur-
sprünglich (weil ihrem Begriffe nach) vernünftig, frei und
gleich seien, die als historische tiefer begründete Anschauung
geltend zu machen, wie sie von Ulpian und anderen
Juristen ausgesprochen wird. Diese unterscheidet natür-
liches und gemeines Recht; sie behauptet sogar den haupt-
sächlichen Gegensatz zwischen diesen beiden Schichten;
denn obgleich das letztere als eine mittlere Lage zwischen
natürlichem und civilem Rechte dargestellt wird, so wird
doch zugleich das civile nur als Anhängsel und speciellere
Ausbildung jenes früheren betrachtet. Hier ist das Natur-
recht Inbegriff der Einrichtungen, welche auch bei den
Thieren sich finden, gemeines Recht derjenigen, die den
Menschen eigenthümlich sind. Diese also beruhen auf einem
Grunde, welchen nicht natürliche Vernunft gelegt hat, son-
dern eine viel allgemeinere Notwendigkeit des Zusammen-
lebens geschaffen hat. Es musste nahe liegen zu folgern,
dass so etwas wie diese Nothwendigkeit auch in den beson-
deren menschlichen Institutionen gemeinen oder civilen
Rechtes enthalten sei; und gegen die Einräumung und Be-
hauptung, dass eben das Allgemeine und nur das Allge-
gemeine offenbar das Nothwendige sei, welches daher als
solches geachtet, erhalten oder wiederhergestellt werden
müsse, konnte zuvörderst sich der Zweifel erheben, was
denn jenes Allgemeine sei? Dass es geschiedene Völker
und Reiche gibt, Sklaverei, Eigenthum, Handelsgeschäfte

bilden können — wenn sie nur wollen; dass also, ausser-
halb aller durch eigene Willkür übernommener Verpflich-
tungen, geschlossener Verträge, eingegangener Verhältnisse,
Jeder vollkommene Freiheit habe und behalte. Dieser Frei-
heit war aber nicht blos ein Institut wie die Knechtschaft
entgegen, sondern auch die väterliche Gewalt (ausser über
Kinder und Wahnwitzige) und alle Gesetze, welche in einer
gegebenen Stadt, z. B. in Rom, dem eingeborenen Bürger
und seinem Eigenthum Standesvorrechte vor dem Fremden
verliehen. Insofern als die begriffliche in zeitliche Folge
umgesetzt ward, so schien es, als habe die Willkür von
Gesetzgebern alle diese Schranken aufgerichtet wider die
Natur. Und doch vermochte sich gegen das Fundament
dieser Ansicht, als ob die Menschen von Natur und ur-
sprünglich (weil ihrem Begriffe nach) vernünftig, frei und
gleich seien, die als historische tiefer begründete Anschauung
geltend zu machen, wie sie von Ulpian und anderen
Juristen ausgesprochen wird. Diese unterscheidet natür-
liches und gemeines Recht; sie behauptet sogar den haupt-
sächlichen Gegensatz zwischen diesen beiden Schichten;
denn obgleich das letztere als eine mittlere Lage zwischen
natürlichem und civilem Rechte dargestellt wird, so wird
doch zugleich das civile nur als Anhängsel und speciellere
Ausbildung jenes früheren betrachtet. Hier ist das Natur-
recht Inbegriff der Einrichtungen, welche auch bei den
Thieren sich finden, gemeines Recht derjenigen, die den
Menschen eigenthümlich sind. Diese also beruhen auf einem
Grunde, welchen nicht natürliche Vernunft gelegt hat, son-
dern eine viel allgemeinere Notwendigkeit des Zusammen-
lebens geschaffen hat. Es musste nahe liegen zu folgern,
dass so etwas wie diese Nothwendigkeit auch in den beson-
deren menschlichen Institutionen gemeinen oder civilen
Rechtes enthalten sei; und gegen die Einräumung und Be-
hauptung, dass eben das Allgemeine und nur das Allge-
gemeine offenbar das Nothwendige sei, welches daher als
solches geachtet, erhalten oder wiederhergestellt werden
müsse, konnte zuvörderst sich der Zweifel erheben, was
denn jenes Allgemeine sei? Dass es geschiedene Völker
und Reiche gibt, Sklaverei, Eigenthum, Handelsgeschäfte

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[239/0275] bilden können — wenn sie nur wollen; dass also, ausser- halb aller durch eigene Willkür übernommener Verpflich- tungen, geschlossener Verträge, eingegangener Verhältnisse, Jeder vollkommene Freiheit habe und behalte. Dieser Frei- heit war aber nicht blos ein Institut wie die Knechtschaft entgegen, sondern auch die väterliche Gewalt (ausser über Kinder und Wahnwitzige) und alle Gesetze, welche in einer gegebenen Stadt, z. B. in Rom, dem eingeborenen Bürger und seinem Eigenthum Standesvorrechte vor dem Fremden verliehen. Insofern als die begriffliche in zeitliche Folge umgesetzt ward, so schien es, als habe die Willkür von Gesetzgebern alle diese Schranken aufgerichtet wider die Natur. Und doch vermochte sich gegen das Fundament dieser Ansicht, als ob die Menschen von Natur und ur- sprünglich (weil ihrem Begriffe nach) vernünftig, frei und gleich seien, die als historische tiefer begründete Anschauung geltend zu machen, wie sie von Ulpian und anderen Juristen ausgesprochen wird. Diese unterscheidet natür- liches und gemeines Recht; sie behauptet sogar den haupt- sächlichen Gegensatz zwischen diesen beiden Schichten; denn obgleich das letztere als eine mittlere Lage zwischen natürlichem und civilem Rechte dargestellt wird, so wird doch zugleich das civile nur als Anhängsel und speciellere Ausbildung jenes früheren betrachtet. Hier ist das Natur- recht Inbegriff der Einrichtungen, welche auch bei den Thieren sich finden, gemeines Recht derjenigen, die den Menschen eigenthümlich sind. Diese also beruhen auf einem Grunde, welchen nicht natürliche Vernunft gelegt hat, son- dern eine viel allgemeinere Notwendigkeit des Zusammen- lebens geschaffen hat. Es musste nahe liegen zu folgern, dass so etwas wie diese Nothwendigkeit auch in den beson- deren menschlichen Institutionen gemeinen oder civilen Rechtes enthalten sei; und gegen die Einräumung und Be- hauptung, dass eben das Allgemeine und nur das Allge- gemeine offenbar das Nothwendige sei, welches daher als solches geachtet, erhalten oder wiederhergestellt werden müsse, konnte zuvörderst sich der Zweifel erheben, was denn jenes Allgemeine sei? Dass es geschiedene Völker und Reiche gibt, Sklaverei, Eigenthum, Handelsgeschäfte

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/275>, abgerufen am 25.04.2024.