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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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nur durch die Kargheit der Mittel (welche dasselbe Interesse
der arbeitenden Classe als Preis der Arbeitskraft hingibt)
eingeschränkt. Eine besondere und zahlreiche Abtheilung,
welche weit über die gewerbsmässigen "Verbrecher" hinaus-
greift, wird in ihrer Sucht und Noth, sich den Hebel aller
unentbehrlichen und entbehrlichen Genüsse zu verschaffen,
in Wahrheit nur durch die Furcht vor Entdeckung und
Strafe, d. i. durch die Furcht vor dem Staate, gehemmt.
Der Staat ist ihr Feind. Er steht ihnen als fremde und
kalte Gewalt gegenüber. Scheinbar von ihnen selber auto-
risirt, ihren Willen in sich enthaltend, ist er doch allen
ihren Bedürfnissen und Wünschen entgegen, Beschützer
des Eigenthums, welches sie nicht besitzen, Zwinger zum
Kriegsdienst für ein Vaterland, das ihnen nur Herd und
Altar ist in Gestalt eines heizbaren Zimmers höherer Stock-
werke, den vierten bis dritten Theil ihres Arbeitslohnes
kostend, oder süsse Heimath in dem Boden des Strassen-
pflasters, auf dem ihnen fremde Herrlichkeit, unerreichbare,
anzugaffen vergönnt ist; während ihr eigentliches Leben
in einem Gegensatz von Arbeit und Feier, welcher beide
verzerrt, zwischen Fabrik als Leid und Schenke als Lust-
getheilt wird. So ist Grosstadt und gesellschaftlicher Zu-
stand überhaupt das Verderben und der Tod des Volkes,
welches umsonst sich bemüht, durch seine Menge mächtig
zu werden, und, wie ihm dünket, seine Macht nur zum
Aufruhr gebrauchen kann, wenn es seines Unglückes ledig
werden will. Die Menge gelangt zur Bewusstheit, vermöge
einer mannigfachen, durch Schulen und Zeitungen ein-
gegebenen Bildung. Sie erhebt sich vom Classen-Bewusstsein
zum Classen-Kampfe. Der Classenkampf zerstört die Gesell-
schaft und den Staat, welche er umgestalten will. Und da
die gesammte Cultur in gesellschaftliche und staatliche
Civilisation umgeschlagen ist, so geht in dieser ihrer ver-
wandelten Gestalt die Cultur selber zu Ende.

§ 7.

Zwei Zeitalter stehen mithin, um diese gesammte
Ansicht zu beschliessen, in den grossen Culturentwick-

nur durch die Kargheit der Mittel (welche dasselbe Interesse
der arbeitenden Classe als Preis der Arbeitskraft hingibt)
eingeschränkt. Eine besondere und zahlreiche Abtheilung,
welche weit über die gewerbsmässigen »Verbrecher« hinaus-
greift, wird in ihrer Sucht und Noth, sich den Hebel aller
unentbehrlichen und entbehrlichen Genüsse zu verschaffen,
in Wahrheit nur durch die Furcht vor Entdeckung und
Strafe, d. i. durch die Furcht vor dem Staate, gehemmt.
Der Staat ist ihr Feind. Er steht ihnen als fremde und
kalte Gewalt gegenüber. Scheinbar von ihnen selber auto-
risirt, ihren Willen in sich enthaltend, ist er doch allen
ihren Bedürfnissen und Wünschen entgegen, Beschützer
des Eigenthums, welches sie nicht besitzen, Zwinger zum
Kriegsdienst für ein Vaterland, das ihnen nur Herd und
Altar ist in Gestalt eines heizbaren Zimmers höherer Stock-
werke, den vierten bis dritten Theil ihres Arbeitslohnes
kostend, oder süsse Heimath in dem Boden des Strassen-
pflasters, auf dem ihnen fremde Herrlichkeit, unerreichbare,
anzugaffen vergönnt ist; während ihr eigentliches Leben
in einem Gegensatz von Arbeit und Feier, welcher beide
verzerrt, zwischen Fabrik als Leid und Schenke als Lust-
getheilt wird. So ist Grosstadt und gesellschaftlicher Zu-
stand überhaupt das Verderben und der Tod des Volkes,
welches umsonst sich bemüht, durch seine Menge mächtig
zu werden, und, wie ihm dünket, seine Macht nur zum
Aufruhr gebrauchen kann, wenn es seines Unglückes ledig
werden will. Die Menge gelangt zur Bewusstheit, vermöge
einer mannigfachen, durch Schulen und Zeitungen ein-
gegebenen Bildung. Sie erhebt sich vom Classen-Bewusstsein
zum Classen-Kampfe. Der Classenkampf zerstört die Gesell-
schaft und den Staat, welche er umgestalten will. Und da
die gesammte Cultur in gesellschaftliche und staatliche
Civilisation umgeschlagen ist, so geht in dieser ihrer ver-
wandelten Gestalt die Cultur selber zu Ende.

§ 7.

Zwei Zeitalter stehen mithin, um diese gesammte
Ansicht zu beschliessen, in den grossen Culturentwick-

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[288/0324] nur durch die Kargheit der Mittel (welche dasselbe Interesse der arbeitenden Classe als Preis der Arbeitskraft hingibt) eingeschränkt. Eine besondere und zahlreiche Abtheilung, welche weit über die gewerbsmässigen »Verbrecher« hinaus- greift, wird in ihrer Sucht und Noth, sich den Hebel aller unentbehrlichen und entbehrlichen Genüsse zu verschaffen, in Wahrheit nur durch die Furcht vor Entdeckung und Strafe, d. i. durch die Furcht vor dem Staate, gehemmt. Der Staat ist ihr Feind. Er steht ihnen als fremde und kalte Gewalt gegenüber. Scheinbar von ihnen selber auto- risirt, ihren Willen in sich enthaltend, ist er doch allen ihren Bedürfnissen und Wünschen entgegen, Beschützer des Eigenthums, welches sie nicht besitzen, Zwinger zum Kriegsdienst für ein Vaterland, das ihnen nur Herd und Altar ist in Gestalt eines heizbaren Zimmers höherer Stock- werke, den vierten bis dritten Theil ihres Arbeitslohnes kostend, oder süsse Heimath in dem Boden des Strassen- pflasters, auf dem ihnen fremde Herrlichkeit, unerreichbare, anzugaffen vergönnt ist; während ihr eigentliches Leben in einem Gegensatz von Arbeit und Feier, welcher beide verzerrt, zwischen Fabrik als Leid und Schenke als Lust- getheilt wird. So ist Grosstadt und gesellschaftlicher Zu- stand überhaupt das Verderben und der Tod des Volkes, welches umsonst sich bemüht, durch seine Menge mächtig zu werden, und, wie ihm dünket, seine Macht nur zum Aufruhr gebrauchen kann, wenn es seines Unglückes ledig werden will. Die Menge gelangt zur Bewusstheit, vermöge einer mannigfachen, durch Schulen und Zeitungen ein- gegebenen Bildung. Sie erhebt sich vom Classen-Bewusstsein zum Classen-Kampfe. Der Classenkampf zerstört die Gesell- schaft und den Staat, welche er umgestalten will. Und da die gesammte Cultur in gesellschaftliche und staatliche Civilisation umgeschlagen ist, so geht in dieser ihrer ver- wandelten Gestalt die Cultur selber zu Ende. § 7. Zwei Zeitalter stehen mithin, um diese gesammte Ansicht zu beschliessen, in den grossen Culturentwick-

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/324>, abgerufen am 28.03.2024.