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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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des Zusammenlebens anstatt des zeitlichen der Familie (des
Stammes des Volkes). Denn diese hat ihre Wurzeln als
unsichtbare, metaphysische, gleichsam unter der Erde, indem
sie von gemeinsamen Vorfahren sich herleitet. Die Lebenden
verbindet das Nacheinander der gewesenen und der wer-
denden Generationen, Vergangenheit und Zukunft. Dort
hingegen ist die physische wirkliche Erde, der bleibende
Ort, das sichtbare Land, wodurch die stärksten Beziehungen
und Verhältnisse nothwendig werden. Während des gemein-
schaftlichen Zeitalters bleibt aber dieses räumliche, jüngere
Princip gebunden durch das zeitliche, ältere. Im gesell-
schaftlichen Zeitalter reisst es sich los, und dies ist das
Dasein der Grosstadt. Sie ist zugleich, wie der Name
anzeigt, der herausfallende, übermässige Ausdruck der städ-
tischen Form des räumlichen Princips; welche Form durch
diese Möglichkeit und Wirklichkeit zu der wesentlich und
fast nothwendiger Weise in der Gebundenheit verharrenden
Dorf-Ansiedlung, der ländlichen Form desselben Princips,
in den entschiedensten Gegensatz geräth. Also ist zu ver-
stehen, in welchem Sinne der ganze Gang der Entwicklung
als fortschreitende Tendenz des städtischen Lebens und
Wesens begriffen werden kann. "Man kann sagen, dass
die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft (d. i. der
modernen Nationen) in der Bewegung des Gegensatzes von
Stadt und Land sich resümirt" (K. Marx, Das Kapital 1,
S. 364)
. Nämlich: von einem gewissen Punkte an gewinnen
die Städte, nach allgemeiner Wirkung und Bedeutung
geschätzt, innerhalb eines Gesammtvolkes das Uebergewicht
über die ihnen zu Grunde liegende ländlich-dorfhafte
Organisation; so dass nunmehr diese mehr Kräfte von ihren
eigenen für die Ernährung und Förderung jener verbrauchen
muss, als sie zum Behufe ihres Selbstersatzes entbehren
kann; folglich ihrer Auflösung entgegengeht, welche die
spätere Auflösung jener in ihr beruhenden Organe und
Thätigkeiten zur nothwendigen Folge hat. Dies ist das
allgemeine Gesetz des Verhältnisses von organischem und
vegetativem, und animalischem oder sensitivem Leben, wie es
in dem normalen und mithin auch in dem möglichst günstigen
Verlaufe der Entwicklung eines Thieres unabänderlich sich

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des Zusammenlebens anstatt des zeitlichen der Familie (des
Stammes des Volkes). Denn diese hat ihre Wurzeln als
unsichtbare, metaphysische, gleichsam unter der Erde, indem
sie von gemeinsamen Vorfahren sich herleitet. Die Lebenden
verbindet das Nacheinander der gewesenen und der wer-
denden Generationen, Vergangenheit und Zukunft. Dort
hingegen ist die physische wirkliche Erde, der bleibende
Ort, das sichtbare Land, wodurch die stärksten Beziehungen
und Verhältnisse nothwendig werden. Während des gemein-
schaftlichen Zeitalters bleibt aber dieses räumliche, jüngere
Princip gebunden durch das zeitliche, ältere. Im gesell-
schaftlichen Zeitalter reisst es sich los, und dies ist das
Dasein der Grosstadt. Sie ist zugleich, wie der Name
anzeigt, der herausfallende, übermässige Ausdruck der städ-
tischen Form des räumlichen Princips; welche Form durch
diese Möglichkeit und Wirklichkeit zu der wesentlich und
fast nothwendiger Weise in der Gebundenheit verharrenden
Dorf-Ansiedlung, der ländlichen Form desselben Princips,
in den entschiedensten Gegensatz geräth. Also ist zu ver-
stehen, in welchem Sinne der ganze Gang der Entwicklung
als fortschreitende Tendenz des städtischen Lebens und
Wesens begriffen werden kann. »Man kann sagen, dass
die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft (d. i. der
modernen Nationen) in der Bewegung des Gegensatzes von
Stadt und Land sich resümirt« (K. Marx, Das Kapital 1,
S. 364)
. Nämlich: von einem gewissen Punkte an gewinnen
die Städte, nach allgemeiner Wirkung und Bedeutung
geschätzt, innerhalb eines Gesammtvolkes das Uebergewicht
über die ihnen zu Grunde liegende ländlich-dorfhafte
Organisation; so dass nunmehr diese mehr Kräfte von ihren
eigenen für die Ernährung und Förderung jener verbrauchen
muss, als sie zum Behufe ihres Selbstersatzes entbehren
kann; folglich ihrer Auflösung entgegengeht, welche die
spätere Auflösung jener in ihr beruhenden Organe und
Thätigkeiten zur nothwendigen Folge hat. Dies ist das
allgemeine Gesetz des Verhältnisses von organischem und
vegetativem, und animalischem oder sensitivem Leben, wie es
in dem normalen und mithin auch in dem möglichst günstigen
Verlaufe der Entwicklung eines Thieres unabänderlich sich

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[291/0327] des Zusammenlebens anstatt des zeitlichen der Familie (des Stammes des Volkes). Denn diese hat ihre Wurzeln als unsichtbare, metaphysische, gleichsam unter der Erde, indem sie von gemeinsamen Vorfahren sich herleitet. Die Lebenden verbindet das Nacheinander der gewesenen und der wer- denden Generationen, Vergangenheit und Zukunft. Dort hingegen ist die physische wirkliche Erde, der bleibende Ort, das sichtbare Land, wodurch die stärksten Beziehungen und Verhältnisse nothwendig werden. Während des gemein- schaftlichen Zeitalters bleibt aber dieses räumliche, jüngere Princip gebunden durch das zeitliche, ältere. Im gesell- schaftlichen Zeitalter reisst es sich los, und dies ist das Dasein der Grosstadt. Sie ist zugleich, wie der Name anzeigt, der herausfallende, übermässige Ausdruck der städ- tischen Form des räumlichen Princips; welche Form durch diese Möglichkeit und Wirklichkeit zu der wesentlich und fast nothwendiger Weise in der Gebundenheit verharrenden Dorf-Ansiedlung, der ländlichen Form desselben Princips, in den entschiedensten Gegensatz geräth. Also ist zu ver- stehen, in welchem Sinne der ganze Gang der Entwicklung als fortschreitende Tendenz des städtischen Lebens und Wesens begriffen werden kann. »Man kann sagen, dass die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft (d. i. der modernen Nationen) in der Bewegung des Gegensatzes von Stadt und Land sich resümirt« (K. Marx, Das Kapital 1, S. 364). Nämlich: von einem gewissen Punkte an gewinnen die Städte, nach allgemeiner Wirkung und Bedeutung geschätzt, innerhalb eines Gesammtvolkes das Uebergewicht über die ihnen zu Grunde liegende ländlich-dorfhafte Organisation; so dass nunmehr diese mehr Kräfte von ihren eigenen für die Ernährung und Förderung jener verbrauchen muss, als sie zum Behufe ihres Selbstersatzes entbehren kann; folglich ihrer Auflösung entgegengeht, welche die spätere Auflösung jener in ihr beruhenden Organe und Thätigkeiten zur nothwendigen Folge hat. Dies ist das allgemeine Gesetz des Verhältnisses von organischem und vegetativem, und animalischem oder sensitivem Leben, wie es in dem normalen und mithin auch in dem möglichst günstigen Verlaufe der Entwicklung eines Thieres unabänderlich sich 19*

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/327>, abgerufen am 24.04.2024.