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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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berühmte Schotte sich einbildete, unmittelbare oder auch
nur wahrscheinliche Folge der Neuerung, dass Arbeit ge-
theilt und Producte ausgetauscht werden. Sie ist vielmehr
ein fernes Ziel, in Bezug auf welches die Entwicklung
der Gesellschaft begriffen werden muss, und in dem Maasse
seiner Verwirklichung ist auch das Dasein einer Gesell-
schaft zu einer bestimmten Zeit in unserem Sinne wirklich.
Es ist mithin immer ein werdendes Etwas, das hier als
Subject des allgemeinen Willens oder der allgemeinen Ver-
nunft gedacht werden soll. Und zugleich (wie wir wissen)
ein fictives und nominelles. Es schwebt gleichsam in der
Luft, wie es aus den Köpfen seiner bewussten Träger her-
vorgegangen ist, die sich über alle Entfernungen, Grenzen
und Bedenken hinweg tauschbegierig die Hände reichen,
und diese speculative Vollkommenheit begründen, als das
einzige Land, die einzige Stadt, woran alle Glücksritter
und Abenteurer (merchant adventurers) ein wirklich gemein-
sames Interesse haben. So wird sie repräsentirt, wie die
Fiction des Geldes durch Metall oder Papier, durch den
ganzen Erdball oder durch ein zufällig bestimmtes Terri-
torium. Denn in diesem Begriffe muss von allen ursprüng-
lichen oder natürlichen Beziehungen der Menschen zu ein-
ander abstrahirt werden. Die Möglichkeit eines gesellschaft-
lichen Verhältnisses setzt nichts voraus als eine Mehrheit
von nackten Personen, welche etwas zu leisten und folglich
auch etwas zu versprechen fähig sind. Gesellschaft als
Gesammtheit, über welche sich ein conventionelles System
von Regeln erstrecken soll, ist daher, ihrer Idee nach, un-
begrenzt; ihre wirklichen und zufälligen Grenzen durch-
bricht sie fortwährend. Da nun in ihr jede Person ihren
eigenen Vortheil erstrebt und die übrigen nur bejaht, so
weit und so lange als sie denselben fördern mögen, so kann
das Verhältniss Aller zu Allen, vor und ausserhalb der
Convention, und wiederum vor und ausser jedem beson-
deren Contracte, als potentielle Feindseligkeit oder als ein
latenter Krieg begriffen werden, gegen welchen dann alle
jene Einigungen der Willen als ebensoviele Verträge und
Friedensschlüsse sich abheben. Und dies ist diejenige Auf-
fassung, welche allen Thatsachen des Verkehrs und Handels,

berühmte Schotte sich einbildete, unmittelbare oder auch
nur wahrscheinliche Folge der Neuerung, dass Arbeit ge-
theilt und Producte ausgetauscht werden. Sie ist vielmehr
ein fernes Ziel, in Bezug auf welches die Entwicklung
der Gesellschaft begriffen werden muss, und in dem Maasse
seiner Verwirklichung ist auch das Dasein einer Gesell-
schaft zu einer bestimmten Zeit in unserem Sinne wirklich.
Es ist mithin immer ein werdendes Etwas, das hier als
Subject des allgemeinen Willens oder der allgemeinen Ver-
nunft gedacht werden soll. Und zugleich (wie wir wissen)
ein fictives und nominelles. Es schwebt gleichsam in der
Luft, wie es aus den Köpfen seiner bewussten Träger her-
vorgegangen ist, die sich über alle Entfernungen, Grenzen
und Bedenken hinweg tauschbegierig die Hände reichen,
und diese speculative Vollkommenheit begründen, als das
einzige Land, die einzige Stadt, woran alle Glücksritter
und Abenteurer (merchant adventurers) ein wirklich gemein-
sames Interesse haben. So wird sie repräsentirt, wie die
Fiction des Geldes durch Metall oder Papier, durch den
ganzen Erdball oder durch ein zufällig bestimmtes Terri-
torium. Denn in diesem Begriffe muss von allen ursprüng-
lichen oder natürlichen Beziehungen der Menschen zu ein-
ander abstrahirt werden. Die Möglichkeit eines gesellschaft-
lichen Verhältnisses setzt nichts voraus als eine Mehrheit
von nackten Personen, welche etwas zu leisten und folglich
auch etwas zu versprechen fähig sind. Gesellschaft als
Gesammtheit, über welche sich ein conventionelles System
von Regeln erstrecken soll, ist daher, ihrer Idee nach, un-
begrenzt; ihre wirklichen und zufälligen Grenzen durch-
bricht sie fortwährend. Da nun in ihr jede Person ihren
eigenen Vortheil erstrebt und die übrigen nur bejaht, so
weit und so lange als sie denselben fördern mögen, so kann
das Verhältniss Aller zu Allen, vor und ausserhalb der
Convention, und wiederum vor und ausser jedem beson-
deren Contracte, als potentielle Feindseligkeit oder als ein
latenter Krieg begriffen werden, gegen welchen dann alle
jene Einigungen der Willen als ebensoviele Verträge und
Friedensschlüsse sich abheben. Und dies ist diejenige Auf-
fassung, welche allen Thatsachen des Verkehrs und Handels,

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[61/0097] berühmte Schotte sich einbildete, unmittelbare oder auch nur wahrscheinliche Folge der Neuerung, dass Arbeit ge- theilt und Producte ausgetauscht werden. Sie ist vielmehr ein fernes Ziel, in Bezug auf welches die Entwicklung der Gesellschaft begriffen werden muss, und in dem Maasse seiner Verwirklichung ist auch das Dasein einer Gesell- schaft zu einer bestimmten Zeit in unserem Sinne wirklich. Es ist mithin immer ein werdendes Etwas, das hier als Subject des allgemeinen Willens oder der allgemeinen Ver- nunft gedacht werden soll. Und zugleich (wie wir wissen) ein fictives und nominelles. Es schwebt gleichsam in der Luft, wie es aus den Köpfen seiner bewussten Träger her- vorgegangen ist, die sich über alle Entfernungen, Grenzen und Bedenken hinweg tauschbegierig die Hände reichen, und diese speculative Vollkommenheit begründen, als das einzige Land, die einzige Stadt, woran alle Glücksritter und Abenteurer (merchant adventurers) ein wirklich gemein- sames Interesse haben. So wird sie repräsentirt, wie die Fiction des Geldes durch Metall oder Papier, durch den ganzen Erdball oder durch ein zufällig bestimmtes Terri- torium. Denn in diesem Begriffe muss von allen ursprüng- lichen oder natürlichen Beziehungen der Menschen zu ein- ander abstrahirt werden. Die Möglichkeit eines gesellschaft- lichen Verhältnisses setzt nichts voraus als eine Mehrheit von nackten Personen, welche etwas zu leisten und folglich auch etwas zu versprechen fähig sind. Gesellschaft als Gesammtheit, über welche sich ein conventionelles System von Regeln erstrecken soll, ist daher, ihrer Idee nach, un- begrenzt; ihre wirklichen und zufälligen Grenzen durch- bricht sie fortwährend. Da nun in ihr jede Person ihren eigenen Vortheil erstrebt und die übrigen nur bejaht, so weit und so lange als sie denselben fördern mögen, so kann das Verhältniss Aller zu Allen, vor und ausserhalb der Convention, und wiederum vor und ausser jedem beson- deren Contracte, als potentielle Feindseligkeit oder als ein latenter Krieg begriffen werden, gegen welchen dann alle jene Einigungen der Willen als ebensoviele Verträge und Friedensschlüsse sich abheben. Und dies ist diejenige Auf- fassung, welche allen Thatsachen des Verkehrs und Handels,

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/97>, abgerufen am 25.04.2024.