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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
und abgeschmackt, wie das Schwert Karls des Großen, das den böhmischen
Löwen auf der Klinge trug, oder wie die Chorknaben von St. Bartholomäi,
die durch ihr hellstimmiges fiat! vom hohen Chor herab im Namen der
deutschen Nation die Erwählung des Weltherrschers genehmigten.

Die Umbildung des altgermanischen Wahlkönigthums zur erblichen
Monarchie hat den meisten Völkern Westeuropas die Staatseinheit ge-
sichert. Deutschland aber blieb ein Wahlreich, und die dreihundertjäh-
rige Verbindung seiner Krone mit dem Hause Oesterreich erweckte nur
neue Kräfte des Zerfalles und des Unfriedens, denn das Kaiserthum der
Habsburger war unserem Volke eine Fremdherrschaft. Abgetrennt von
der Mitte Deutschlands durch das starke Slavenreich in Böhmen, hatte
die alte deutsche Südostmark schon früh im Mittelalter ihres eigenen
Weges gehen und sich einleben müssen in die verschlungene Politik des
ungarisch-slavisch-walachischen Völkergemisches der unteren Donaulande.
Sie wurde sodann durch das Haus Habsburg zum Kernlande eines
mächtigen vielsprachigen Reiches erhoben, durch falsche und echte Privi-
legien aller ernstlichen Pflichten gegen das deutsche Reich entbunden und
erlangte bereits im sechzehnten Jahrhundert eine so wohlgesicherte
Selbständigkeit, daß die Habsburger sich mit dem Plane tragen konnten
ihre deutschen Erblande zu einem Königreich Oesterreich zu vereinigen.
Mitten im Gewimmel fremden Volksthums bewahrten die tapferen
Stämme der Alpen und des Donauthales getreulich ihre deutsche Art;
sie nahmen mit ihrer frischen herzhaften Sinnlichkeit rühmlich Theil an
dem geistigen Schaffen unseres Mittelalters. An dem lebensfrohen
Hofe der Babenberger blühte die ritterliche Kunst; der größte Dichter
unserer Staufertage war ein Sohn der Tyroler Alpen; die prächtigen
Hallen von St. Stephan und St. Marien am Stiegen erzählten von
dem Stolze und dem Kunstfleiß des deutschen Bürgerthums in Nieder-
österreich. Alsdann wandte sich auch hier der deutsche Geist in freudigem
Erwachen der evangelischen Lehre zu; in Böhmen wurde das Hussitenthum
wieder lebendig, und am Ausgang des Jahrhunderts der Reformation
war der größte Theil der deutsch-österreichischen Kronländer dem Glauben
unseres Volkes gewonnen. Da führte der Glaubenseifer des Kaiserhauses
alle Schrecken des Völkermordes über Oesterreich herauf. Unter blutigen
Gräueln ward die Herrschaft der römischen Kirche durch die kaiserlichen
Seligmacher wieder aufgerichtet. Was deutschen Sinnes war und dem
fremden Joche sich nicht beugte, Hunderttausende der Besten vom böh-
mischen Volke fanden eine neue Heimath in den Landen der evangelischen
Reichsfürsten. Die daheim geblieben, verloren in der Schule der Jesuiten
die Lebenskraft des deutschen Geistes: den Muth des Gewissens, den
sittlichen Idealismus. Kirchlicher Druck zerstört die tiefsten Wurzeln des
Volkslebens. Der helle Frohmuth des österreichischen Deutschthums ver-
flachte in gedankenloser Genußsucht, das leichtlebige Volk gewöhnte sich

I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
und abgeſchmackt, wie das Schwert Karls des Großen, das den böhmiſchen
Löwen auf der Klinge trug, oder wie die Chorknaben von St. Bartholomäi,
die durch ihr hellſtimmiges fiat! vom hohen Chor herab im Namen der
deutſchen Nation die Erwählung des Weltherrſchers genehmigten.

Die Umbildung des altgermaniſchen Wahlkönigthums zur erblichen
Monarchie hat den meiſten Völkern Weſteuropas die Staatseinheit ge-
ſichert. Deutſchland aber blieb ein Wahlreich, und die dreihundertjäh-
rige Verbindung ſeiner Krone mit dem Hauſe Oeſterreich erweckte nur
neue Kräfte des Zerfalles und des Unfriedens, denn das Kaiſerthum der
Habsburger war unſerem Volke eine Fremdherrſchaft. Abgetrennt von
der Mitte Deutſchlands durch das ſtarke Slavenreich in Böhmen, hatte
die alte deutſche Südoſtmark ſchon früh im Mittelalter ihres eigenen
Weges gehen und ſich einleben müſſen in die verſchlungene Politik des
ungariſch-ſlaviſch-walachiſchen Völkergemiſches der unteren Donaulande.
Sie wurde ſodann durch das Haus Habsburg zum Kernlande eines
mächtigen vielſprachigen Reiches erhoben, durch falſche und echte Privi-
legien aller ernſtlichen Pflichten gegen das deutſche Reich entbunden und
erlangte bereits im ſechzehnten Jahrhundert eine ſo wohlgeſicherte
Selbſtändigkeit, daß die Habsburger ſich mit dem Plane tragen konnten
ihre deutſchen Erblande zu einem Königreich Oeſterreich zu vereinigen.
Mitten im Gewimmel fremden Volksthums bewahrten die tapferen
Stämme der Alpen und des Donauthales getreulich ihre deutſche Art;
ſie nahmen mit ihrer friſchen herzhaften Sinnlichkeit rühmlich Theil an
dem geiſtigen Schaffen unſeres Mittelalters. An dem lebensfrohen
Hofe der Babenberger blühte die ritterliche Kunſt; der größte Dichter
unſerer Staufertage war ein Sohn der Tyroler Alpen; die prächtigen
Hallen von St. Stephan und St. Marien am Stiegen erzählten von
dem Stolze und dem Kunſtfleiß des deutſchen Bürgerthums in Nieder-
öſterreich. Alsdann wandte ſich auch hier der deutſche Geiſt in freudigem
Erwachen der evangeliſchen Lehre zu; in Böhmen wurde das Huſſitenthum
wieder lebendig, und am Ausgang des Jahrhunderts der Reformation
war der größte Theil der deutſch-öſterreichiſchen Kronländer dem Glauben
unſeres Volkes gewonnen. Da führte der Glaubenseifer des Kaiſerhauſes
alle Schrecken des Völkermordes über Oeſterreich herauf. Unter blutigen
Gräueln ward die Herrſchaft der römiſchen Kirche durch die kaiſerlichen
Seligmacher wieder aufgerichtet. Was deutſchen Sinnes war und dem
fremden Joche ſich nicht beugte, Hunderttauſende der Beſten vom böh-
miſchen Volke fanden eine neue Heimath in den Landen der evangeliſchen
Reichsfürſten. Die daheim geblieben, verloren in der Schule der Jeſuiten
die Lebenskraft des deutſchen Geiſtes: den Muth des Gewiſſens, den
ſittlichen Idealismus. Kirchlicher Druck zerſtört die tiefſten Wurzeln des
Volkslebens. Der helle Frohmuth des öſterreichiſchen Deutſchthums ver-
flachte in gedankenloſer Genußſucht, das leichtlebige Volk gewöhnte ſich

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[10/0026] I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. und abgeſchmackt, wie das Schwert Karls des Großen, das den böhmiſchen Löwen auf der Klinge trug, oder wie die Chorknaben von St. Bartholomäi, die durch ihr hellſtimmiges fiat! vom hohen Chor herab im Namen der deutſchen Nation die Erwählung des Weltherrſchers genehmigten. Die Umbildung des altgermaniſchen Wahlkönigthums zur erblichen Monarchie hat den meiſten Völkern Weſteuropas die Staatseinheit ge- ſichert. Deutſchland aber blieb ein Wahlreich, und die dreihundertjäh- rige Verbindung ſeiner Krone mit dem Hauſe Oeſterreich erweckte nur neue Kräfte des Zerfalles und des Unfriedens, denn das Kaiſerthum der Habsburger war unſerem Volke eine Fremdherrſchaft. Abgetrennt von der Mitte Deutſchlands durch das ſtarke Slavenreich in Böhmen, hatte die alte deutſche Südoſtmark ſchon früh im Mittelalter ihres eigenen Weges gehen und ſich einleben müſſen in die verſchlungene Politik des ungariſch-ſlaviſch-walachiſchen Völkergemiſches der unteren Donaulande. Sie wurde ſodann durch das Haus Habsburg zum Kernlande eines mächtigen vielſprachigen Reiches erhoben, durch falſche und echte Privi- legien aller ernſtlichen Pflichten gegen das deutſche Reich entbunden und erlangte bereits im ſechzehnten Jahrhundert eine ſo wohlgeſicherte Selbſtändigkeit, daß die Habsburger ſich mit dem Plane tragen konnten ihre deutſchen Erblande zu einem Königreich Oeſterreich zu vereinigen. Mitten im Gewimmel fremden Volksthums bewahrten die tapferen Stämme der Alpen und des Donauthales getreulich ihre deutſche Art; ſie nahmen mit ihrer friſchen herzhaften Sinnlichkeit rühmlich Theil an dem geiſtigen Schaffen unſeres Mittelalters. An dem lebensfrohen Hofe der Babenberger blühte die ritterliche Kunſt; der größte Dichter unſerer Staufertage war ein Sohn der Tyroler Alpen; die prächtigen Hallen von St. Stephan und St. Marien am Stiegen erzählten von dem Stolze und dem Kunſtfleiß des deutſchen Bürgerthums in Nieder- öſterreich. Alsdann wandte ſich auch hier der deutſche Geiſt in freudigem Erwachen der evangeliſchen Lehre zu; in Böhmen wurde das Huſſitenthum wieder lebendig, und am Ausgang des Jahrhunderts der Reformation war der größte Theil der deutſch-öſterreichiſchen Kronländer dem Glauben unſeres Volkes gewonnen. Da führte der Glaubenseifer des Kaiſerhauſes alle Schrecken des Völkermordes über Oeſterreich herauf. Unter blutigen Gräueln ward die Herrſchaft der römiſchen Kirche durch die kaiſerlichen Seligmacher wieder aufgerichtet. Was deutſchen Sinnes war und dem fremden Joche ſich nicht beugte, Hunderttauſende der Beſten vom böh- miſchen Volke fanden eine neue Heimath in den Landen der evangeliſchen Reichsfürſten. Die daheim geblieben, verloren in der Schule der Jeſuiten die Lebenskraft des deutſchen Geiſtes: den Muth des Gewiſſens, den ſittlichen Idealismus. Kirchlicher Druck zerſtört die tiefſten Wurzeln des Volkslebens. Der helle Frohmuth des öſterreichiſchen Deutſchthums ver- flachte in gedankenloſer Genußſucht, das leichtlebige Volk gewöhnte ſich

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/26>, abgerufen am 20.04.2024.