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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
die kleinliche Vorliebe für das handgreiflich Nützliche auf; die Wissenschaft
erkannte, daß sie des Vaterlandes bedurfte um menschlich wahr zu sein.
Das alte harte kriegerische Preußenthum und die Gedankenfülle der mo-
dernen deutschen Bildung fanden sich endlich zusammen um nicht wieder
von einander zu lassen. Diese Versöhnung zwischen den beiden schöpferischen
Mächten unserer neuen Geschichte giebt den schweren Jahren, welche dem
Tilsiter Frieden folgten, ihre historische Größe. In dieser Zeit des Leidens
und der Selbstbesinnung haben sich alle die politischen Ideale zuerst ge-
bildet, an deren Verwirklichung die deutsche Nation bis zum heutigen
Tage arbeitet.

Nirgends hatte die Willkür des Eroberers grausamer gehaust als in
Preußen; darum ward auch der große Sinn des Kampfes, der die Welt
erschütterte, nirgends tiefer, bewußter, leidenschaftlicher empfunden als
unter den deutschen Patrioten. Gegen die abenteuerlichen Pläne des napo-
leonischen Weltreichs erhob sich der Gedanke der Staatenfreiheit, derselbe
Gedanke, für den einst der Neugründer des preußischen Staates gegen
den vierzehnten Ludwig gefochten hatte. Den kosmopolitischen Lehren der
bewaffneten Revolution trat die nationale Gesinnung, die Begeisterung
für Vaterland, Volksthum und heimische Eigenart entgegen. Im Kampfe
wider die erdrückende Staatsallmacht des Bonapartismus erwuchs eine
neue lebendige Anschauung vom Staate, die in der freien Entfaltung der
persönlichen Kraft den sittlichen Halt der Nationen sah. Die großen
Gegensätze, die hier auf einander stießen, spiegelten sich getreulich wieder
in den Personen der leitenden Männer. Dort jener eine Mann, der sich
vermaß, er selber sei das Schicksal, aus ihm rede und wirke die Natur
der Dinge -- der Uebermächtige, der mit der Wucht seines herrischen
Genius jeden anderen Willen erdrückte; tief unter ihm ein Dienergefolge
von tapferen Landsknechten und brauchbaren Geschäftsmännern, aber fast
kein einziger aufrechter Charakter, fast Keiner, dessen inneres Leben sich
über das platt Alltägliche erhob. Hier eine lange Schaar ungewöhnlicher
Menschen, scharf ausgeprägte, eigensinnige Naturen, jeder eine kleine Welt
für sich selber voll deutschen Trotzes und deutscher Tadelsucht, jeder eines
Biographen würdig, zu selbständig und gedankenreich um kurzweg zu ge-
horchen, doch allesammt einig in dem glühenden Verlangen, die Freiheit
und Ehre ihres geschändeten Vaterlandes wiederaufzurichten.

Einer aber stand in diesem Kreise nicht als Herrscher, doch als der
Erste unter Gleichen: der Freiherr vom Stein, der Bahnbrecher des Zeit-
alters der Reformen. Das Schloß seiner Ahnen lag zu Nassau, mitten
im buntesten Ländergemenge der Kleinstaaterei; von der Lahnbrücke im
nahen Ems konnte der Knabe in die Gebiete von acht deutschen Fürsten
und Herren zugleich hineinschauen. Dort wuchs er auf, in der freien
Luft, unter der strengen Zucht eines stolzen, frommen, ehrenfesten alt-
ritterlichen Hauses, das sich allen Fürsten des Reiches gleich dünkte.

I. 3. Preußens Erhebung.
die kleinliche Vorliebe für das handgreiflich Nützliche auf; die Wiſſenſchaft
erkannte, daß ſie des Vaterlandes bedurfte um menſchlich wahr zu ſein.
Das alte harte kriegeriſche Preußenthum und die Gedankenfülle der mo-
dernen deutſchen Bildung fanden ſich endlich zuſammen um nicht wieder
von einander zu laſſen. Dieſe Verſöhnung zwiſchen den beiden ſchöpferiſchen
Mächten unſerer neuen Geſchichte giebt den ſchweren Jahren, welche dem
Tilſiter Frieden folgten, ihre hiſtoriſche Größe. In dieſer Zeit des Leidens
und der Selbſtbeſinnung haben ſich alle die politiſchen Ideale zuerſt ge-
bildet, an deren Verwirklichung die deutſche Nation bis zum heutigen
Tage arbeitet.

Nirgends hatte die Willkür des Eroberers grauſamer gehauſt als in
Preußen; darum ward auch der große Sinn des Kampfes, der die Welt
erſchütterte, nirgends tiefer, bewußter, leidenſchaftlicher empfunden als
unter den deutſchen Patrioten. Gegen die abenteuerlichen Pläne des napo-
leoniſchen Weltreichs erhob ſich der Gedanke der Staatenfreiheit, derſelbe
Gedanke, für den einſt der Neugründer des preußiſchen Staates gegen
den vierzehnten Ludwig gefochten hatte. Den kosmopolitiſchen Lehren der
bewaffneten Revolution trat die nationale Geſinnung, die Begeiſterung
für Vaterland, Volksthum und heimiſche Eigenart entgegen. Im Kampfe
wider die erdrückende Staatsallmacht des Bonapartismus erwuchs eine
neue lebendige Anſchauung vom Staate, die in der freien Entfaltung der
perſönlichen Kraft den ſittlichen Halt der Nationen ſah. Die großen
Gegenſätze, die hier auf einander ſtießen, ſpiegelten ſich getreulich wieder
in den Perſonen der leitenden Männer. Dort jener eine Mann, der ſich
vermaß, er ſelber ſei das Schickſal, aus ihm rede und wirke die Natur
der Dinge — der Uebermächtige, der mit der Wucht ſeines herriſchen
Genius jeden anderen Willen erdrückte; tief unter ihm ein Dienergefolge
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kein einziger aufrechter Charakter, faſt Keiner, deſſen inneres Leben ſich
über das platt Alltägliche erhob. Hier eine lange Schaar ungewöhnlicher
Menſchen, ſcharf ausgeprägte, eigenſinnige Naturen, jeder eine kleine Welt
für ſich ſelber voll deutſchen Trotzes und deutſcher Tadelſucht, jeder eines
Biographen würdig, zu ſelbſtändig und gedankenreich um kurzweg zu ge-
horchen, doch alleſammt einig in dem glühenden Verlangen, die Freiheit
und Ehre ihres geſchändeten Vaterlandes wiederaufzurichten.

Einer aber ſtand in dieſem Kreiſe nicht als Herrſcher, doch als der
Erſte unter Gleichen: der Freiherr vom Stein, der Bahnbrecher des Zeit-
alters der Reformen. Das Schloß ſeiner Ahnen lag zu Naſſau, mitten
im bunteſten Ländergemenge der Kleinſtaaterei; von der Lahnbrücke im
nahen Ems konnte der Knabe in die Gebiete von acht deutſchen Fürſten
und Herren zugleich hineinſchauen. Dort wuchs er auf, in der freien
Luft, unter der ſtrengen Zucht eines ſtolzen, frommen, ehrenfeſten alt-
ritterlichen Hauſes, das ſich allen Fürſten des Reiches gleich dünkte.

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[270/0286] I. 3. Preußens Erhebung. die kleinliche Vorliebe für das handgreiflich Nützliche auf; die Wiſſenſchaft erkannte, daß ſie des Vaterlandes bedurfte um menſchlich wahr zu ſein. Das alte harte kriegeriſche Preußenthum und die Gedankenfülle der mo- dernen deutſchen Bildung fanden ſich endlich zuſammen um nicht wieder von einander zu laſſen. Dieſe Verſöhnung zwiſchen den beiden ſchöpferiſchen Mächten unſerer neuen Geſchichte giebt den ſchweren Jahren, welche dem Tilſiter Frieden folgten, ihre hiſtoriſche Größe. In dieſer Zeit des Leidens und der Selbſtbeſinnung haben ſich alle die politiſchen Ideale zuerſt ge- bildet, an deren Verwirklichung die deutſche Nation bis zum heutigen Tage arbeitet. Nirgends hatte die Willkür des Eroberers grauſamer gehauſt als in Preußen; darum ward auch der große Sinn des Kampfes, der die Welt erſchütterte, nirgends tiefer, bewußter, leidenſchaftlicher empfunden als unter den deutſchen Patrioten. Gegen die abenteuerlichen Pläne des napo- leoniſchen Weltreichs erhob ſich der Gedanke der Staatenfreiheit, derſelbe Gedanke, für den einſt der Neugründer des preußiſchen Staates gegen den vierzehnten Ludwig gefochten hatte. Den kosmopolitiſchen Lehren der bewaffneten Revolution trat die nationale Geſinnung, die Begeiſterung für Vaterland, Volksthum und heimiſche Eigenart entgegen. Im Kampfe wider die erdrückende Staatsallmacht des Bonapartismus erwuchs eine neue lebendige Anſchauung vom Staate, die in der freien Entfaltung der perſönlichen Kraft den ſittlichen Halt der Nationen ſah. Die großen Gegenſätze, die hier auf einander ſtießen, ſpiegelten ſich getreulich wieder in den Perſonen der leitenden Männer. Dort jener eine Mann, der ſich vermaß, er ſelber ſei das Schickſal, aus ihm rede und wirke die Natur der Dinge — der Uebermächtige, der mit der Wucht ſeines herriſchen Genius jeden anderen Willen erdrückte; tief unter ihm ein Dienergefolge von tapferen Landsknechten und brauchbaren Geſchäftsmännern, aber faſt kein einziger aufrechter Charakter, faſt Keiner, deſſen inneres Leben ſich über das platt Alltägliche erhob. Hier eine lange Schaar ungewöhnlicher Menſchen, ſcharf ausgeprägte, eigenſinnige Naturen, jeder eine kleine Welt für ſich ſelber voll deutſchen Trotzes und deutſcher Tadelſucht, jeder eines Biographen würdig, zu ſelbſtändig und gedankenreich um kurzweg zu ge- horchen, doch alleſammt einig in dem glühenden Verlangen, die Freiheit und Ehre ihres geſchändeten Vaterlandes wiederaufzurichten. Einer aber ſtand in dieſem Kreiſe nicht als Herrſcher, doch als der Erſte unter Gleichen: der Freiherr vom Stein, der Bahnbrecher des Zeit- alters der Reformen. Das Schloß ſeiner Ahnen lag zu Naſſau, mitten im bunteſten Ländergemenge der Kleinſtaaterei; von der Lahnbrücke im nahen Ems konnte der Knabe in die Gebiete von acht deutſchen Fürſten und Herren zugleich hineinſchauen. Dort wuchs er auf, in der freien Luft, unter der ſtrengen Zucht eines ſtolzen, frommen, ehrenfeſten alt- ritterlichen Hauſes, das ſich allen Fürſten des Reiches gleich dünkte.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/286>, abgerufen am 29.03.2024.