Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite
Vierter Abschnitt.

Die Eröffnung des Deutschen Bundestages.

Das Weltreich war gefallen, über seinen Trümmern erhob sich wieder
eine friedliche Staatengesellschaft. Aber jenes alte System der europäischen
Politik, das durch wechselnde Bündnisse und Gegenbündnisse die fünf Groß-
mächte im Gleichgewicht zu erhalten suchte, kehrte vorerst nicht wieder.
Alle Staaten des Welttheils bildeten jetzt, wie Gentz sagte, eine große
Union unter der Aufsicht der vier Mächte, welche den Krieg gegen Na-
poleon geführt und ihren Bund soeben in Paris erneuert hatten. So
viele Jahre hindurch, in der argen Zeit des Harrens und des Leidens,
war an diesem rettenden Bunde gearbeitet worden; nun hatte er in drei
schweren Kriegsjahren seine Probe bestanden. Während ihres langen Zu-
sammenlebens hatten sich die Monarchen und die leitenden Staatsmänner
an einen vertrauten persönlichen Verkehr gewöhnt, wie er vordem unter
gekrönten Häuptern unerhört gewesen; sie beschlossen, auch in Zukunft alle
großen Fragen der europäischen Politik in persönlichen Zusammenkünften
zu besprechen. Der Bund der vier Mächte betrachtete sich als den obersten
Gerichtshof Europas; er hielt für seine nächste Pflicht, die neue Ordnung
der Staatengesellschaft vor einem Friedensbruche zu bewahren und darum
das unberechenbare Frankreich, den Heerd der Revolutionen und der Kriege,
gemeinsam zu überwachen. Während das europäische Occupationsheer unter
Wellingtons Oberbefehl die Ruhe in Frankreich aufrecht zu erhalten hatte,
sollten die vier Gesandten zu Paris in regelmäßigen Conferenzen die lau-
fenden Geschäfte der großen Allianz erledigen und den Tuilerienhof mit
ihren Rathschlägen unterstützen; in einzelnen Fällen luden die Vier auch
den Herzog von Richelieu selbst zur Berathung ein. Alle Streitfragen,
die sich aus den Wiener und Pariser Verträgen ergaben, wurden dieser
Gesandtenconferenz zugewiesen; nur die Abwicklung der verworrenen deut-
schen Gebietsfragen blieb einer besonderen Verhandlung in Frankfurt vor-
behalten.

Noch niemals hatte das Staatensystem eine so festgeordnete bündische
Gemeinschaft gebildet. Das Protectorat der vier Mächte beherrschte den

Vierter Abſchnitt.

Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Das Weltreich war gefallen, über ſeinen Trümmern erhob ſich wieder
eine friedliche Staatengeſellſchaft. Aber jenes alte Syſtem der europäiſchen
Politik, das durch wechſelnde Bündniſſe und Gegenbündniſſe die fünf Groß-
mächte im Gleichgewicht zu erhalten ſuchte, kehrte vorerſt nicht wieder.
Alle Staaten des Welttheils bildeten jetzt, wie Gentz ſagte, eine große
Union unter der Aufſicht der vier Mächte, welche den Krieg gegen Na-
poleon geführt und ihren Bund ſoeben in Paris erneuert hatten. So
viele Jahre hindurch, in der argen Zeit des Harrens und des Leidens,
war an dieſem rettenden Bunde gearbeitet worden; nun hatte er in drei
ſchweren Kriegsjahren ſeine Probe beſtanden. Während ihres langen Zu-
ſammenlebens hatten ſich die Monarchen und die leitenden Staatsmänner
an einen vertrauten perſönlichen Verkehr gewöhnt, wie er vordem unter
gekrönten Häuptern unerhört geweſen; ſie beſchloſſen, auch in Zukunft alle
großen Fragen der europäiſchen Politik in perſönlichen Zuſammenkünften
zu beſprechen. Der Bund der vier Mächte betrachtete ſich als den oberſten
Gerichtshof Europas; er hielt für ſeine nächſte Pflicht, die neue Ordnung
der Staatengeſellſchaft vor einem Friedensbruche zu bewahren und darum
das unberechenbare Frankreich, den Heerd der Revolutionen und der Kriege,
gemeinſam zu überwachen. Während das europäiſche Occupationsheer unter
Wellingtons Oberbefehl die Ruhe in Frankreich aufrecht zu erhalten hatte,
ſollten die vier Geſandten zu Paris in regelmäßigen Conferenzen die lau-
fenden Geſchäfte der großen Allianz erledigen und den Tuilerienhof mit
ihren Rathſchlägen unterſtützen; in einzelnen Fällen luden die Vier auch
den Herzog von Richelieu ſelbſt zur Berathung ein. Alle Streitfragen,
die ſich aus den Wiener und Pariſer Verträgen ergaben, wurden dieſer
Geſandtenconferenz zugewieſen; nur die Abwicklung der verworrenen deut-
ſchen Gebietsfragen blieb einer beſonderen Verhandlung in Frankfurt vor-
behalten.

Noch niemals hatte das Staatenſyſtem eine ſo feſtgeordnete bündiſche
Gemeinſchaft gebildet. Das Protectorat der vier Mächte beherrſchte den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0132" n="[118]"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Vierter Ab&#x017F;chnitt.<lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/> Die Eröffnung des Deut&#x017F;chen Bundestages.</hi> </head><lb/>
          <p>Das Weltreich war gefallen, über &#x017F;einen Trümmern erhob &#x017F;ich wieder<lb/>
eine friedliche Staatenge&#x017F;ell&#x017F;chaft. Aber jenes alte Sy&#x017F;tem der europäi&#x017F;chen<lb/>
Politik, das durch wech&#x017F;elnde Bündni&#x017F;&#x017F;e und Gegenbündni&#x017F;&#x017F;e die fünf Groß-<lb/>
mächte im Gleichgewicht zu erhalten &#x017F;uchte, kehrte vorer&#x017F;t nicht wieder.<lb/>
Alle Staaten des Welttheils bildeten jetzt, wie Gentz &#x017F;agte, eine große<lb/>
Union unter der Auf&#x017F;icht der vier Mächte, welche den Krieg gegen Na-<lb/>
poleon geführt und ihren Bund &#x017F;oeben in Paris erneuert hatten. So<lb/>
viele Jahre hindurch, in der argen Zeit des Harrens und des Leidens,<lb/>
war an die&#x017F;em rettenden Bunde gearbeitet worden; nun hatte er in drei<lb/>
&#x017F;chweren Kriegsjahren &#x017F;eine Probe be&#x017F;tanden. Während ihres langen Zu-<lb/>
&#x017F;ammenlebens hatten &#x017F;ich die Monarchen und die leitenden Staatsmänner<lb/>
an einen vertrauten per&#x017F;önlichen Verkehr gewöhnt, wie er vordem unter<lb/>
gekrönten Häuptern unerhört gewe&#x017F;en; &#x017F;ie be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, auch in Zukunft alle<lb/>
großen Fragen der europäi&#x017F;chen Politik in per&#x017F;önlichen Zu&#x017F;ammenkünften<lb/>
zu be&#x017F;prechen. Der Bund der vier Mächte betrachtete &#x017F;ich als den ober&#x017F;ten<lb/>
Gerichtshof Europas; er hielt für &#x017F;eine näch&#x017F;te Pflicht, die neue Ordnung<lb/>
der Staatenge&#x017F;ell&#x017F;chaft vor einem Friedensbruche zu bewahren und darum<lb/>
das unberechenbare Frankreich, den Heerd der Revolutionen und der Kriege,<lb/>
gemein&#x017F;am zu überwachen. Während das europäi&#x017F;che Occupationsheer unter<lb/>
Wellingtons Oberbefehl die Ruhe in Frankreich aufrecht zu erhalten hatte,<lb/>
&#x017F;ollten die vier Ge&#x017F;andten zu Paris in regelmäßigen Conferenzen die lau-<lb/>
fenden Ge&#x017F;chäfte der großen Allianz erledigen und den Tuilerienhof mit<lb/>
ihren Rath&#x017F;chlägen unter&#x017F;tützen; in einzelnen Fällen luden die Vier auch<lb/>
den Herzog von Richelieu &#x017F;elb&#x017F;t zur Berathung ein. Alle Streitfragen,<lb/>
die &#x017F;ich aus den Wiener und Pari&#x017F;er Verträgen ergaben, wurden die&#x017F;er<lb/>
Ge&#x017F;andtenconferenz zugewie&#x017F;en; nur die Abwicklung der verworrenen deut-<lb/>
&#x017F;chen Gebietsfragen blieb einer be&#x017F;onderen Verhandlung in Frankfurt vor-<lb/>
behalten.</p><lb/>
          <p>Noch niemals hatte das Staaten&#x017F;y&#x017F;tem eine &#x017F;o fe&#x017F;tgeordnete bündi&#x017F;che<lb/>
Gemein&#x017F;chaft gebildet. Das Protectorat der vier Mächte beherr&#x017F;chte den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[118]/0132] Vierter Abſchnitt. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages. Das Weltreich war gefallen, über ſeinen Trümmern erhob ſich wieder eine friedliche Staatengeſellſchaft. Aber jenes alte Syſtem der europäiſchen Politik, das durch wechſelnde Bündniſſe und Gegenbündniſſe die fünf Groß- mächte im Gleichgewicht zu erhalten ſuchte, kehrte vorerſt nicht wieder. Alle Staaten des Welttheils bildeten jetzt, wie Gentz ſagte, eine große Union unter der Aufſicht der vier Mächte, welche den Krieg gegen Na- poleon geführt und ihren Bund ſoeben in Paris erneuert hatten. So viele Jahre hindurch, in der argen Zeit des Harrens und des Leidens, war an dieſem rettenden Bunde gearbeitet worden; nun hatte er in drei ſchweren Kriegsjahren ſeine Probe beſtanden. Während ihres langen Zu- ſammenlebens hatten ſich die Monarchen und die leitenden Staatsmänner an einen vertrauten perſönlichen Verkehr gewöhnt, wie er vordem unter gekrönten Häuptern unerhört geweſen; ſie beſchloſſen, auch in Zukunft alle großen Fragen der europäiſchen Politik in perſönlichen Zuſammenkünften zu beſprechen. Der Bund der vier Mächte betrachtete ſich als den oberſten Gerichtshof Europas; er hielt für ſeine nächſte Pflicht, die neue Ordnung der Staatengeſellſchaft vor einem Friedensbruche zu bewahren und darum das unberechenbare Frankreich, den Heerd der Revolutionen und der Kriege, gemeinſam zu überwachen. Während das europäiſche Occupationsheer unter Wellingtons Oberbefehl die Ruhe in Frankreich aufrecht zu erhalten hatte, ſollten die vier Geſandten zu Paris in regelmäßigen Conferenzen die lau- fenden Geſchäfte der großen Allianz erledigen und den Tuilerienhof mit ihren Rathſchlägen unterſtützen; in einzelnen Fällen luden die Vier auch den Herzog von Richelieu ſelbſt zur Berathung ein. Alle Streitfragen, die ſich aus den Wiener und Pariſer Verträgen ergaben, wurden dieſer Geſandtenconferenz zugewieſen; nur die Abwicklung der verworrenen deut- ſchen Gebietsfragen blieb einer beſonderen Verhandlung in Frankfurt vor- behalten. Noch niemals hatte das Staatenſyſtem eine ſo feſtgeordnete bündiſche Gemeinſchaft gebildet. Das Protectorat der vier Mächte beherrſchte den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/132
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. [118]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/132>, abgerufen am 19.04.2024.