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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Die kurhessische Verfassung.
so klar die nationale Eigenart des älteren deutschen Repräsentativsystems,
die seltsame Verquickung der noch immer fortwirkenden altständischen
Rechtsüberlieferungen mit der Doctrin des modernen Naturrechts. Mit
erschöpfendem Fleiße trugen Jordan und seine Freunde aus den wohl-
gefüllten Zeughäusern der altständischen Verfassung und des neuen allge-
meinen Staatsrechts alle die Netze herbei, welche den Fürsten wie ein
Wild umstellen sollten, so daß er sich nicht mehr rühren konnte. Eggena
so gut wie die Landstände betrachteten das neue Grundgesetz als einen
Vertrag zwischen Fürst und Volk; in diesem Urtheile stimmte die altstän-
dische Rechtsansicht mit der Lehre des Contrat social überein.

Darum wurde dem Thronfolger erst nach geleistetem Verfassungseide
gehuldigt, und jede Verbesserung des vereinbarten Grundvertrages aufs
Aeußerste erschwert. Nur wenn die Stände einmüthig oder auf zwei
Landtagen nach einander mit Dreiviertel-Mehrheit zustimmten konnte
die Verfassung erläutert oder geändert werden; erhoben sich Zweifel über
den Sinn ihrer Vorschriften, so entschied ein Compromißgericht, zu dem
Fürst und Landtag je drei Mitglieder wählten. Den Landtag bildeten die
Abgeordneten der drei alten Stände; sie waren aber fortan allesammt
Vertreter des ganzen Volkes und sollten in einer Kammer nach Köpfen
abstimmen, weil man einsah, daß die Ritterschaft des Landes zu schwach
und zu arm war um in einem Oberhause eine angesehene Stellung zu
behaupten. Die Stände erhielten außer dem Rechte der freien Steuer-
bewilligung und der Zustimmung zu allen Gesetzen auch die Befugniß
der Initiative, die noch keinem deutschen Landtage unbeschränkt zustand.
Sobald die Mandate der Stände nach drei Jahren abliefen, erfolgte sofort
die Neuwahl auch ohne die Aufforderung der Regierung. Wenn der
Landtag nicht versammelt war, sollte nach altständischem Brauche ein er-
wählter Ausschuß von drei bis fünf Mitgliedern mit einem lebensläng-
lichen Syndicus die Rechte der Stände vertreten und nöthigenfalls auch
andere Abgeordnete zu Rathe ziehen.

Den Staatsbürgern wurden einige Menschenrechte der persönlichen
Freiheit gewährt, auch die Ablösung der Grundlasten sowie andere wirth-
schaftliche Erleichterungen versprochen. Zur Sicherung dieser ständischen
und bürgerlichen Rechte waren Bollwerke aufgerichtet, die in Deutschland
nicht ihres gleichen fanden. Jeder männliche Hesse sollte in seinem acht-
zehnten Lebensjahre das Grundgesetz beschwören; auch das Heer und die
Bürgergarde wurden mithin auf die Verfassung vereidigt, die Offiziere
den übrigen Staatsdienern rechtlich gleichgestellt, obgleich dem Kurfürsten
der Name des "obersten Militärchefs" blieb. Bei jeder Ausschreibung
einer Steuer mußte die ständische Zustimmung ausdrücklich angegeben
werden; wo nicht, so war Niemand berechtigt die Abgabe zu erheben,
Niemand verpflichtet sie zu zahlen; nur sechs Monate lang nach einer
Auflösung des Landtags durfte die Regierung die früher bewilligten

Die kurheſſiſche Verfaſſung.
ſo klar die nationale Eigenart des älteren deutſchen Repräſentativſyſtems,
die ſeltſame Verquickung der noch immer fortwirkenden altſtändiſchen
Rechtsüberlieferungen mit der Doctrin des modernen Naturrechts. Mit
erſchöpfendem Fleiße trugen Jordan und ſeine Freunde aus den wohl-
gefüllten Zeughäuſern der altſtändiſchen Verfaſſung und des neuen allge-
meinen Staatsrechts alle die Netze herbei, welche den Fürſten wie ein
Wild umſtellen ſollten, ſo daß er ſich nicht mehr rühren konnte. Eggena
ſo gut wie die Landſtände betrachteten das neue Grundgeſetz als einen
Vertrag zwiſchen Fürſt und Volk; in dieſem Urtheile ſtimmte die altſtän-
diſche Rechtsanſicht mit der Lehre des Contrat social überein.

Darum wurde dem Thronfolger erſt nach geleiſtetem Verfaſſungseide
gehuldigt, und jede Verbeſſerung des vereinbarten Grundvertrages aufs
Aeußerſte erſchwert. Nur wenn die Stände einmüthig oder auf zwei
Landtagen nach einander mit Dreiviertel-Mehrheit zuſtimmten konnte
die Verfaſſung erläutert oder geändert werden; erhoben ſich Zweifel über
den Sinn ihrer Vorſchriften, ſo entſchied ein Compromißgericht, zu dem
Fürſt und Landtag je drei Mitglieder wählten. Den Landtag bildeten die
Abgeordneten der drei alten Stände; ſie waren aber fortan alleſammt
Vertreter des ganzen Volkes und ſollten in einer Kammer nach Köpfen
abſtimmen, weil man einſah, daß die Ritterſchaft des Landes zu ſchwach
und zu arm war um in einem Oberhauſe eine angeſehene Stellung zu
behaupten. Die Stände erhielten außer dem Rechte der freien Steuer-
bewilligung und der Zuſtimmung zu allen Geſetzen auch die Befugniß
der Initiative, die noch keinem deutſchen Landtage unbeſchränkt zuſtand.
Sobald die Mandate der Stände nach drei Jahren abliefen, erfolgte ſofort
die Neuwahl auch ohne die Aufforderung der Regierung. Wenn der
Landtag nicht verſammelt war, ſollte nach altſtändiſchem Brauche ein er-
wählter Ausſchuß von drei bis fünf Mitgliedern mit einem lebensläng-
lichen Syndicus die Rechte der Stände vertreten und nöthigenfalls auch
andere Abgeordnete zu Rathe ziehen.

Den Staatsbürgern wurden einige Menſchenrechte der perſönlichen
Freiheit gewährt, auch die Ablöſung der Grundlaſten ſowie andere wirth-
ſchaftliche Erleichterungen verſprochen. Zur Sicherung dieſer ſtändiſchen
und bürgerlichen Rechte waren Bollwerke aufgerichtet, die in Deutſchland
nicht ihres gleichen fanden. Jeder männliche Heſſe ſollte in ſeinem acht-
zehnten Lebensjahre das Grundgeſetz beſchwören; auch das Heer und die
Bürgergarde wurden mithin auf die Verfaſſung vereidigt, die Offiziere
den übrigen Staatsdienern rechtlich gleichgeſtellt, obgleich dem Kurfürſten
der Name des „oberſten Militärchefs“ blieb. Bei jeder Ausſchreibung
einer Steuer mußte die ſtändiſche Zuſtimmung ausdrücklich angegeben
werden; wo nicht, ſo war Niemand berechtigt die Abgabe zu erheben,
Niemand verpflichtet ſie zu zahlen; nur ſechs Monate lang nach einer
Auflöſung des Landtags durfte die Regierung die früher bewilligten

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[133/0147] Die kurheſſiſche Verfaſſung. ſo klar die nationale Eigenart des älteren deutſchen Repräſentativſyſtems, die ſeltſame Verquickung der noch immer fortwirkenden altſtändiſchen Rechtsüberlieferungen mit der Doctrin des modernen Naturrechts. Mit erſchöpfendem Fleiße trugen Jordan und ſeine Freunde aus den wohl- gefüllten Zeughäuſern der altſtändiſchen Verfaſſung und des neuen allge- meinen Staatsrechts alle die Netze herbei, welche den Fürſten wie ein Wild umſtellen ſollten, ſo daß er ſich nicht mehr rühren konnte. Eggena ſo gut wie die Landſtände betrachteten das neue Grundgeſetz als einen Vertrag zwiſchen Fürſt und Volk; in dieſem Urtheile ſtimmte die altſtän- diſche Rechtsanſicht mit der Lehre des Contrat social überein. Darum wurde dem Thronfolger erſt nach geleiſtetem Verfaſſungseide gehuldigt, und jede Verbeſſerung des vereinbarten Grundvertrages aufs Aeußerſte erſchwert. Nur wenn die Stände einmüthig oder auf zwei Landtagen nach einander mit Dreiviertel-Mehrheit zuſtimmten konnte die Verfaſſung erläutert oder geändert werden; erhoben ſich Zweifel über den Sinn ihrer Vorſchriften, ſo entſchied ein Compromißgericht, zu dem Fürſt und Landtag je drei Mitglieder wählten. Den Landtag bildeten die Abgeordneten der drei alten Stände; ſie waren aber fortan alleſammt Vertreter des ganzen Volkes und ſollten in einer Kammer nach Köpfen abſtimmen, weil man einſah, daß die Ritterſchaft des Landes zu ſchwach und zu arm war um in einem Oberhauſe eine angeſehene Stellung zu behaupten. Die Stände erhielten außer dem Rechte der freien Steuer- bewilligung und der Zuſtimmung zu allen Geſetzen auch die Befugniß der Initiative, die noch keinem deutſchen Landtage unbeſchränkt zuſtand. Sobald die Mandate der Stände nach drei Jahren abliefen, erfolgte ſofort die Neuwahl auch ohne die Aufforderung der Regierung. Wenn der Landtag nicht verſammelt war, ſollte nach altſtändiſchem Brauche ein er- wählter Ausſchuß von drei bis fünf Mitgliedern mit einem lebensläng- lichen Syndicus die Rechte der Stände vertreten und nöthigenfalls auch andere Abgeordnete zu Rathe ziehen. Den Staatsbürgern wurden einige Menſchenrechte der perſönlichen Freiheit gewährt, auch die Ablöſung der Grundlaſten ſowie andere wirth- ſchaftliche Erleichterungen verſprochen. Zur Sicherung dieſer ſtändiſchen und bürgerlichen Rechte waren Bollwerke aufgerichtet, die in Deutſchland nicht ihres gleichen fanden. Jeder männliche Heſſe ſollte in ſeinem acht- zehnten Lebensjahre das Grundgeſetz beſchwören; auch das Heer und die Bürgergarde wurden mithin auf die Verfaſſung vereidigt, die Offiziere den übrigen Staatsdienern rechtlich gleichgeſtellt, obgleich dem Kurfürſten der Name des „oberſten Militärchefs“ blieb. Bei jeder Ausſchreibung einer Steuer mußte die ſtändiſche Zuſtimmung ausdrücklich angegeben werden; wo nicht, ſo war Niemand berechtigt die Abgabe zu erheben, Niemand verpflichtet ſie zu zahlen; nur ſechs Monate lang nach einer Auflöſung des Landtags durfte die Regierung die früher bewilligten

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/147>, abgerufen am 28.03.2024.