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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Charakter des neuen Zeitalters.
hinaus. Die Wahlen und die Redeschlachten der Parlamente, die Bera-
thungen der Vereine, die großen neuen wirthschaftlichen Unternehmungen
nehmen die Kraft des Mannes in Anspruch, im Kaffehaus und bei der
Cigarre sucht er seine Erholung. Der häusliche Verkehr verödet, die Frauen
behaupten nicht mehr die unbestrittene Herrschaft im geselligen Leben und
versuchen dafür schon zuweilen mit der Männerarbeit den ungleichen Wett-
kampf aufzunehmen. Die Zeitungen und die rasch ins Kraut schießende
populäre Literatur wecken in weiten Kreisen den Sinn für das öffentliche
Leben, aber auch eine begehrliche, glaubenlose, dünkelhafte Halbbildung;
manches schöne Talent verflüchtigt sich in Eintagswerken, nur wenige
starke Geister vermögen noch sich hinauszuretten aus der unmuthigen
Hast der Zeit, in Kunst und Forschung Dauerndes zu schaffen. Der
demokratische Charakter der Epoche spiegelt sich treulich wieder in ihrer
Männerkleidung, der häßlichsten, aber auch der zweckmäßigsten und be-
quemsten, welche je in Europa getragen wurde. Haar- und Barttracht
bleiben dem persönlichen Belieben überlassen, im Uebrigen herrscht unver-
brüchlich das demokratische Anstandsgesetz, das Keinem erlaubt sich von
den Anderen zu unterscheiden; Jedermann trägt den nämlichen schmutz-
und mischfarbigen, taschenreichen Sackrock, der dem beschäftigten Manne so
viel Zeit erspart; das lange Beinkleid und die Stiefeln dringen jetzt bis
in den Salon, der demokratische Frack läßt auch hier Alle, Gäste und
Diener, vollkommen gleich erscheinen.

Das verarmte Deutschland vermochte dem Umschwunge des Verkehres
und der Lebensgewohnheiten nur langsam zu folgen. Um so mächtiger
strömten die politischen Gedanken der Franzosen in unser Leben ein, war
ihnen doch längst der Boden bereitet durch die radicale Literatur der
zwanziger Jahre. Unabhängig von den Franzosen, zumeist im Kampfe mit
ihnen, hatte der deutsche Genius in den Jahren der classischen Dichtung, in
den Befreiungskriegen, in den schönen Jugendtagen der historischen Wissen-
schaft sich in Wort und That seine Wege gefunden. Nun erfolgte ein
ungeheuerer Rückschritt; die alte Aufklärung, die seit Herder's Zeiten über-
wunden schien, kam wieder empor, und sie trug französische Gewänder.
Jene tiefsinnige historische Anschauung vom Staate, die sich in der deutschen
Wissenschaft still vorbereitet, aber noch nicht durchgebildet hatte, trat in den
Hintergrund. Die alte Naturrechtslehre von dem vernunftgemäßen Staate
der Gleichheit, von der Unfehlbarkeit der öffentlichen Meinung, von der
Staatsgewalt, die nicht regieren sondern der Mehrheit dienen sollte, führte
das große Wort und verfiel bald in leere Phrasen, da sie nichts Neues
mehr zu sagen wußte. Die vaterländische Begeisterung der Befreiungs-
kriege ward verdrängt durch einen liberalen Weltbürgersinn, der im Namen
der Freiheit die Feinde Deutschlands im Osten wie im Westen verherr-
lichte und das eigene Volk mit Schimpf überhäufte. Auf das geistvolle
Kunstverständniß der Romantiker folgte wieder ein flacher, mit Freiheits-

Charakter des neuen Zeitalters.
hinaus. Die Wahlen und die Redeſchlachten der Parlamente, die Bera-
thungen der Vereine, die großen neuen wirthſchaftlichen Unternehmungen
nehmen die Kraft des Mannes in Anſpruch, im Kaffehaus und bei der
Cigarre ſucht er ſeine Erholung. Der häusliche Verkehr verödet, die Frauen
behaupten nicht mehr die unbeſtrittene Herrſchaft im geſelligen Leben und
verſuchen dafür ſchon zuweilen mit der Männerarbeit den ungleichen Wett-
kampf aufzunehmen. Die Zeitungen und die raſch ins Kraut ſchießende
populäre Literatur wecken in weiten Kreiſen den Sinn für das öffentliche
Leben, aber auch eine begehrliche, glaubenloſe, dünkelhafte Halbbildung;
manches ſchöne Talent verflüchtigt ſich in Eintagswerken, nur wenige
ſtarke Geiſter vermögen noch ſich hinauszuretten aus der unmuthigen
Haſt der Zeit, in Kunſt und Forſchung Dauerndes zu ſchaffen. Der
demokratiſche Charakter der Epoche ſpiegelt ſich treulich wieder in ihrer
Männerkleidung, der häßlichſten, aber auch der zweckmäßigſten und be-
quemſten, welche je in Europa getragen wurde. Haar- und Barttracht
bleiben dem perſönlichen Belieben überlaſſen, im Uebrigen herrſcht unver-
brüchlich das demokratiſche Anſtandsgeſetz, das Keinem erlaubt ſich von
den Anderen zu unterſcheiden; Jedermann trägt den nämlichen ſchmutz-
und miſchfarbigen, taſchenreichen Sackrock, der dem beſchäftigten Manne ſo
viel Zeit erſpart; das lange Beinkleid und die Stiefeln dringen jetzt bis
in den Salon, der demokratiſche Frack läßt auch hier Alle, Gäſte und
Diener, vollkommen gleich erſcheinen.

Das verarmte Deutſchland vermochte dem Umſchwunge des Verkehres
und der Lebensgewohnheiten nur langſam zu folgen. Um ſo mächtiger
ſtrömten die politiſchen Gedanken der Franzoſen in unſer Leben ein, war
ihnen doch längſt der Boden bereitet durch die radicale Literatur der
zwanziger Jahre. Unabhängig von den Franzoſen, zumeiſt im Kampfe mit
ihnen, hatte der deutſche Genius in den Jahren der claſſiſchen Dichtung, in
den Befreiungskriegen, in den ſchönen Jugendtagen der hiſtoriſchen Wiſſen-
ſchaft ſich in Wort und That ſeine Wege gefunden. Nun erfolgte ein
ungeheuerer Rückſchritt; die alte Aufklärung, die ſeit Herder’s Zeiten über-
wunden ſchien, kam wieder empor, und ſie trug franzöſiſche Gewänder.
Jene tiefſinnige hiſtoriſche Anſchauung vom Staate, die ſich in der deutſchen
Wiſſenſchaft ſtill vorbereitet, aber noch nicht durchgebildet hatte, trat in den
Hintergrund. Die alte Naturrechtslehre von dem vernunftgemäßen Staate
der Gleichheit, von der Unfehlbarkeit der öffentlichen Meinung, von der
Staatsgewalt, die nicht regieren ſondern der Mehrheit dienen ſollte, führte
das große Wort und verfiel bald in leere Phraſen, da ſie nichts Neues
mehr zu ſagen wußte. Die vaterländiſche Begeiſterung der Befreiungs-
kriege ward verdrängt durch einen liberalen Weltbürgerſinn, der im Namen
der Freiheit die Feinde Deutſchlands im Oſten wie im Weſten verherr-
lichte und das eigene Volk mit Schimpf überhäufte. Auf das geiſtvolle
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[5/0019] Charakter des neuen Zeitalters. hinaus. Die Wahlen und die Redeſchlachten der Parlamente, die Bera- thungen der Vereine, die großen neuen wirthſchaftlichen Unternehmungen nehmen die Kraft des Mannes in Anſpruch, im Kaffehaus und bei der Cigarre ſucht er ſeine Erholung. Der häusliche Verkehr verödet, die Frauen behaupten nicht mehr die unbeſtrittene Herrſchaft im geſelligen Leben und verſuchen dafür ſchon zuweilen mit der Männerarbeit den ungleichen Wett- kampf aufzunehmen. Die Zeitungen und die raſch ins Kraut ſchießende populäre Literatur wecken in weiten Kreiſen den Sinn für das öffentliche Leben, aber auch eine begehrliche, glaubenloſe, dünkelhafte Halbbildung; manches ſchöne Talent verflüchtigt ſich in Eintagswerken, nur wenige ſtarke Geiſter vermögen noch ſich hinauszuretten aus der unmuthigen Haſt der Zeit, in Kunſt und Forſchung Dauerndes zu ſchaffen. Der demokratiſche Charakter der Epoche ſpiegelt ſich treulich wieder in ihrer Männerkleidung, der häßlichſten, aber auch der zweckmäßigſten und be- quemſten, welche je in Europa getragen wurde. Haar- und Barttracht bleiben dem perſönlichen Belieben überlaſſen, im Uebrigen herrſcht unver- brüchlich das demokratiſche Anſtandsgeſetz, das Keinem erlaubt ſich von den Anderen zu unterſcheiden; Jedermann trägt den nämlichen ſchmutz- und miſchfarbigen, taſchenreichen Sackrock, der dem beſchäftigten Manne ſo viel Zeit erſpart; das lange Beinkleid und die Stiefeln dringen jetzt bis in den Salon, der demokratiſche Frack läßt auch hier Alle, Gäſte und Diener, vollkommen gleich erſcheinen. Das verarmte Deutſchland vermochte dem Umſchwunge des Verkehres und der Lebensgewohnheiten nur langſam zu folgen. Um ſo mächtiger ſtrömten die politiſchen Gedanken der Franzoſen in unſer Leben ein, war ihnen doch längſt der Boden bereitet durch die radicale Literatur der zwanziger Jahre. Unabhängig von den Franzoſen, zumeiſt im Kampfe mit ihnen, hatte der deutſche Genius in den Jahren der claſſiſchen Dichtung, in den Befreiungskriegen, in den ſchönen Jugendtagen der hiſtoriſchen Wiſſen- ſchaft ſich in Wort und That ſeine Wege gefunden. Nun erfolgte ein ungeheuerer Rückſchritt; die alte Aufklärung, die ſeit Herder’s Zeiten über- wunden ſchien, kam wieder empor, und ſie trug franzöſiſche Gewänder. Jene tiefſinnige hiſtoriſche Anſchauung vom Staate, die ſich in der deutſchen Wiſſenſchaft ſtill vorbereitet, aber noch nicht durchgebildet hatte, trat in den Hintergrund. Die alte Naturrechtslehre von dem vernunftgemäßen Staate der Gleichheit, von der Unfehlbarkeit der öffentlichen Meinung, von der Staatsgewalt, die nicht regieren ſondern der Mehrheit dienen ſollte, führte das große Wort und verfiel bald in leere Phraſen, da ſie nichts Neues mehr zu ſagen wußte. Die vaterländiſche Begeiſterung der Befreiungs- kriege ward verdrängt durch einen liberalen Weltbürgerſinn, der im Namen der Freiheit die Feinde Deutſchlands im Oſten wie im Weſten verherr- lichte und das eigene Volk mit Schimpf überhäufte. Auf das geiſtvolle Kunſtverſtändniß der Romantiker folgte wieder ein flacher, mit Freiheits-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/19>, abgerufen am 29.03.2024.