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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
die Macht der Doctrin. Die Selbstgefälligkeit des neuen Jahrhunderts
rühmte sich gern, in diesen hellen Tagen sei die Parteibildung grund-
sätzlich geworden und darum klarer, bewußter denn je zuvor; und doch
blieb der Parteikampf jetzt wie zu allen Zeiten ein Kampf um die Macht,
die moderne Sitte der Aufstellung theoretischer Programme erhöhte nur
den Dünkel, die Unversöhnlichkeit der Fractionen. Und selten hat eine
hohle Doctrin so verderblich gewirkt wie jetzt in Frankreich die neue Lehre
von dem allein wahren constitutionellen Staate.

In den Anfängen der Restauration hatten nur vereinzelte Stimmen,
zumeist aus dem Lager der Ultras, dem Könige die verfassungsmäßige
freie Ernennung der Minister zu bestreiten gewagt.*) Damals erklärte
Royer-Collard, der verehrte Führer der Doctrinäre: das Königthum
hört auf an dem Tage wo die Kammer ihm die Minister aufdrängt.
Aber bald wendeten die Liberalen ihre Blicke nach England und bildeten
sich die Meinung, die Parlamentsherrschaft der englischen Aristokratie
müsse in das demokratisirte Frankreich übertragen werden. Thiers, der
klügste Kopf unter den Urhebern der Juli-Revolution faßte die neue Lehre
zusammen in dem Schlagworte: der König herrscht nur, aber er regiert
nicht. Nach dem Siege gestand er unumwunden: in dem Augenblicke,
da das Ministerium Polignac gebildet wurde, erhob sich "die große Frage
des Repräsentativsystems, die Frage, worin sein ganzes Wesen enthalten
ist, die Frage, die über sein Dasein oder Nichtsein entscheidet; es war
die Frage: ist der König von der Mehrheit der Kammern unabhängig
oder nicht? kann er die Minister außerhalb dieser Mehrheit wählen?"
Und noch deutlicher fuhr er fort: "Was wollten wir vor dem Juli?
Die constitutionelle Monarchie mit einem Herrscherhause, das ihre Be-
dingungen anerkennen und deshalb uns den Thron verdanken soll."

Damit war der zweite doctrinäre Glaubenssatz der Zeit ausge-
sprochen. Die Verehrung für das todte Datum liegt in dem schablonen-
haften Charakter der neufranzösischen Bildung tief begründet. Wie die
Liberalen längst glaubten, in dem wunderbaren Jahre 1789 sei ihre neue
Freiheit urplötzlich geboren worden, und mitleidig auf jede andere Nation
herabsahen, wenn sie nicht auch ein 89 in ihren Annalen aufweisen konnte,
so berauschten sie sich nunmehr an der neuen Heilswahrheit: Englands
Freiheit sei erst durch die zweite Revolution von 1688 gesichert worden,
folglich müsse auch Frankreich das Zeitalter seiner Revolution durch ein
anderes 88 abschließen. Die Vergleichung hinkte auf beiden Füßen, denn
wo war in Frankreich ein Schreckensregiment, das den Unthaten des
Blutrichters Jeffreys glich? wo ein mächtiger parlamentarischer Adel, der
das Erbe des vertriebenen Königshauses antreten konnte? Dem ober-
flächlichen Doctrinarismus der Zeit genügten indeß einige äußerliche Aehn-

*) s. o. II. 120.

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
die Macht der Doctrin. Die Selbſtgefälligkeit des neuen Jahrhunderts
rühmte ſich gern, in dieſen hellen Tagen ſei die Parteibildung grund-
ſätzlich geworden und darum klarer, bewußter denn je zuvor; und doch
blieb der Parteikampf jetzt wie zu allen Zeiten ein Kampf um die Macht,
die moderne Sitte der Aufſtellung theoretiſcher Programme erhöhte nur
den Dünkel, die Unverſöhnlichkeit der Fractionen. Und ſelten hat eine
hohle Doctrin ſo verderblich gewirkt wie jetzt in Frankreich die neue Lehre
von dem allein wahren conſtitutionellen Staate.

In den Anfängen der Reſtauration hatten nur vereinzelte Stimmen,
zumeiſt aus dem Lager der Ultras, dem Könige die verfaſſungsmäßige
freie Ernennung der Miniſter zu beſtreiten gewagt.*) Damals erklärte
Royer-Collard, der verehrte Führer der Doctrinäre: das Königthum
hört auf an dem Tage wo die Kammer ihm die Miniſter aufdrängt.
Aber bald wendeten die Liberalen ihre Blicke nach England und bildeten
ſich die Meinung, die Parlamentsherrſchaft der engliſchen Ariſtokratie
müſſe in das demokratiſirte Frankreich übertragen werden. Thiers, der
klügſte Kopf unter den Urhebern der Juli-Revolution faßte die neue Lehre
zuſammen in dem Schlagworte: der König herrſcht nur, aber er regiert
nicht. Nach dem Siege geſtand er unumwunden: in dem Augenblicke,
da das Miniſterium Polignac gebildet wurde, erhob ſich „die große Frage
des Repräſentativſyſtems, die Frage, worin ſein ganzes Weſen enthalten
iſt, die Frage, die über ſein Daſein oder Nichtſein entſcheidet; es war
die Frage: iſt der König von der Mehrheit der Kammern unabhängig
oder nicht? kann er die Miniſter außerhalb dieſer Mehrheit wählen?“
Und noch deutlicher fuhr er fort: „Was wollten wir vor dem Juli?
Die conſtitutionelle Monarchie mit einem Herrſcherhauſe, das ihre Be-
dingungen anerkennen und deshalb uns den Thron verdanken ſoll.“

Damit war der zweite doctrinäre Glaubensſatz der Zeit ausge-
ſprochen. Die Verehrung für das todte Datum liegt in dem ſchablonen-
haften Charakter der neufranzöſiſchen Bildung tief begründet. Wie die
Liberalen längſt glaubten, in dem wunderbaren Jahre 1789 ſei ihre neue
Freiheit urplötzlich geboren worden, und mitleidig auf jede andere Nation
herabſahen, wenn ſie nicht auch ein 89 in ihren Annalen aufweiſen konnte,
ſo berauſchten ſie ſich nunmehr an der neuen Heilswahrheit: Englands
Freiheit ſei erſt durch die zweite Revolution von 1688 geſichert worden,
folglich müſſe auch Frankreich das Zeitalter ſeiner Revolution durch ein
anderes 88 abſchließen. Die Vergleichung hinkte auf beiden Füßen, denn
wo war in Frankreich ein Schreckensregiment, das den Unthaten des
Blutrichters Jeffreys glich? wo ein mächtiger parlamentariſcher Adel, der
das Erbe des vertriebenen Königshauſes antreten konnte? Dem ober-
flächlichen Doctrinarismus der Zeit genügten indeß einige äußerliche Aehn-

*) ſ. o. II. 120.
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[10/0024] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. die Macht der Doctrin. Die Selbſtgefälligkeit des neuen Jahrhunderts rühmte ſich gern, in dieſen hellen Tagen ſei die Parteibildung grund- ſätzlich geworden und darum klarer, bewußter denn je zuvor; und doch blieb der Parteikampf jetzt wie zu allen Zeiten ein Kampf um die Macht, die moderne Sitte der Aufſtellung theoretiſcher Programme erhöhte nur den Dünkel, die Unverſöhnlichkeit der Fractionen. Und ſelten hat eine hohle Doctrin ſo verderblich gewirkt wie jetzt in Frankreich die neue Lehre von dem allein wahren conſtitutionellen Staate. In den Anfängen der Reſtauration hatten nur vereinzelte Stimmen, zumeiſt aus dem Lager der Ultras, dem Könige die verfaſſungsmäßige freie Ernennung der Miniſter zu beſtreiten gewagt. *) Damals erklärte Royer-Collard, der verehrte Führer der Doctrinäre: das Königthum hört auf an dem Tage wo die Kammer ihm die Miniſter aufdrängt. Aber bald wendeten die Liberalen ihre Blicke nach England und bildeten ſich die Meinung, die Parlamentsherrſchaft der engliſchen Ariſtokratie müſſe in das demokratiſirte Frankreich übertragen werden. Thiers, der klügſte Kopf unter den Urhebern der Juli-Revolution faßte die neue Lehre zuſammen in dem Schlagworte: der König herrſcht nur, aber er regiert nicht. Nach dem Siege geſtand er unumwunden: in dem Augenblicke, da das Miniſterium Polignac gebildet wurde, erhob ſich „die große Frage des Repräſentativſyſtems, die Frage, worin ſein ganzes Weſen enthalten iſt, die Frage, die über ſein Daſein oder Nichtſein entſcheidet; es war die Frage: iſt der König von der Mehrheit der Kammern unabhängig oder nicht? kann er die Miniſter außerhalb dieſer Mehrheit wählen?“ Und noch deutlicher fuhr er fort: „Was wollten wir vor dem Juli? Die conſtitutionelle Monarchie mit einem Herrſcherhauſe, das ihre Be- dingungen anerkennen und deshalb uns den Thron verdanken ſoll.“ Damit war der zweite doctrinäre Glaubensſatz der Zeit ausge- ſprochen. Die Verehrung für das todte Datum liegt in dem ſchablonen- haften Charakter der neufranzöſiſchen Bildung tief begründet. Wie die Liberalen längſt glaubten, in dem wunderbaren Jahre 1789 ſei ihre neue Freiheit urplötzlich geboren worden, und mitleidig auf jede andere Nation herabſahen, wenn ſie nicht auch ein 89 in ihren Annalen aufweiſen konnte, ſo berauſchten ſie ſich nunmehr an der neuen Heilswahrheit: Englands Freiheit ſei erſt durch die zweite Revolution von 1688 geſichert worden, folglich müſſe auch Frankreich das Zeitalter ſeiner Revolution durch ein anderes 88 abſchließen. Die Vergleichung hinkte auf beiden Füßen, denn wo war in Frankreich ein Schreckensregiment, das den Unthaten des Blutrichters Jeffreys glich? wo ein mächtiger parlamentariſcher Adel, der das Erbe des vertriebenen Königshauſes antreten konnte? Dem ober- flächlichen Doctrinarismus der Zeit genügten indeß einige äußerliche Aehn- *) ſ. o. II. 120.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/24>, abgerufen am 28.03.2024.