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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
den drei Festlandsmächten gegenüber. Palmerston hatte einst als Mit-
glied des Tory-Cabinets Liverpool selber mit theilgenommen an der
Schöpfung des Vereinigten Königreichs; aber noch gleichmüthiger als
Wellington ließ er den alten Schützling fallen um dessen Feinde zu er-
muthigen. Sofort trat er in vertraulichen Verkehr mit dem jungen van
de Weyer, den die Belgier nach London gesendet hatten, einem klugen und
besonnenen Staatsmanne. Belgien sollte für England werden, was man
von den Vereinigten Niederlanden vergeblich erwartet hatte, ein abhängiger,
ergebener Bundesgenosse. Darum wetteiferte Palmerston mit Talleyrand
in Gunstbeweisen gegen die aufständischen Belgier. Obgleich der Franzose
anfangs die Rolle der uneigennützigen Tugend mit gewohnter Kunstfertig-
keit spielte, so mußte doch die Stunde kommen, da er seine Karten auf-
deckte; und dann konnte dieser freundschaftliche Wettkampf der beiden
wahlverwandten Geister nur mit dem Siege des Britten endigen, da
England nicht in der Lage war belgisches Gebiet für sich zu fordern und
mithin den Ostmächten minder gefährlich erschien.

Gleich der erste Beschluß der Conferenz gereichte den Belgiern zum
Vortheil. Ein Waffenstillstand ward verkündigt und von beiden kämpfen-
den Theilen willig angenommen. Darin lag, obwohl man den Namen
noch vermied, schon die Anerkennung der Aufständischen als einer krieg-
führenden Macht. Ganz auf die gleiche Weise, durch das Gebot der
Waffenruhe, hatten England, Frankreich und Rußland vor drei Jahren
die Errichtung des griechischen Staates diplomatisch eingeleitet.*) Am
20. December ward sodann die Selbständigkeit der südlichen Niederlande
bis zu der alten Nordgrenze vom Jahre 1790 als Grundsatz ange-
nommen, allerdings mit Vorbehalt der Rechte des Königs; denn alle
Mächte, auch Frankreich, mißbilligten die in Brüssel verkündigte Ent-
thronung des königlichen Hauses und wünschten noch, den Oraniern den
Besitz Belgiens, mindestens als eine Secundogenitur zu erhalten. Auf
Preußens Verlangen wurden auch die Rechte des Deutschen Bundes auf
Luxemburg ausdrücklich vorbehalten und dem Bundestage die Erledigung
dieser Streitfrage zugewiesen. Immerhin waren die Grundsteine für den
künftigen belgischen Staat bereits gelegt, und in Berlin erwog man
schon die Frage: was nunmehr aus den Festungen an der Südgrenze
werden solle, da man den Belgiern weder die Macht noch den guten
Willen zutraute, sie gegen Frankreich zu vertheidigen. Feldmarschall
Diebitsch meinte, dann bleibe nur übrig, einen Theil der neuen Festungen
wieder zu schleifen, und der preußische wie der russische Hof schloß sich
dieser Ansicht an.**) Um den Niederlanden doch einen Schutz gegen einen

*) S. o. III. 731.
**) Diebitsch, Denkschrift über die belgischen Festungen 12./24. Oct. Bernstorff,
Weisung an Bülow, 4. Nov. Nesselrode, Weisung an Alopeus 12. Nov. (a. St.) 1830.

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
den drei Feſtlandsmächten gegenüber. Palmerſton hatte einſt als Mit-
glied des Tory-Cabinets Liverpool ſelber mit theilgenommen an der
Schöpfung des Vereinigten Königreichs; aber noch gleichmüthiger als
Wellington ließ er den alten Schützling fallen um deſſen Feinde zu er-
muthigen. Sofort trat er in vertraulichen Verkehr mit dem jungen van
de Weyer, den die Belgier nach London geſendet hatten, einem klugen und
beſonnenen Staatsmanne. Belgien ſollte für England werden, was man
von den Vereinigten Niederlanden vergeblich erwartet hatte, ein abhängiger,
ergebener Bundesgenoſſe. Darum wetteiferte Palmerſton mit Talleyrand
in Gunſtbeweiſen gegen die aufſtändiſchen Belgier. Obgleich der Franzoſe
anfangs die Rolle der uneigennützigen Tugend mit gewohnter Kunſtfertig-
keit ſpielte, ſo mußte doch die Stunde kommen, da er ſeine Karten auf-
deckte; und dann konnte dieſer freundſchaftliche Wettkampf der beiden
wahlverwandten Geiſter nur mit dem Siege des Britten endigen, da
England nicht in der Lage war belgiſches Gebiet für ſich zu fordern und
mithin den Oſtmächten minder gefährlich erſchien.

Gleich der erſte Beſchluß der Conferenz gereichte den Belgiern zum
Vortheil. Ein Waffenſtillſtand ward verkündigt und von beiden kämpfen-
den Theilen willig angenommen. Darin lag, obwohl man den Namen
noch vermied, ſchon die Anerkennung der Aufſtändiſchen als einer krieg-
führenden Macht. Ganz auf die gleiche Weiſe, durch das Gebot der
Waffenruhe, hatten England, Frankreich und Rußland vor drei Jahren
die Errichtung des griechiſchen Staates diplomatiſch eingeleitet.*) Am
20. December ward ſodann die Selbſtändigkeit der ſüdlichen Niederlande
bis zu der alten Nordgrenze vom Jahre 1790 als Grundſatz ange-
nommen, allerdings mit Vorbehalt der Rechte des Königs; denn alle
Mächte, auch Frankreich, mißbilligten die in Brüſſel verkündigte Ent-
thronung des königlichen Hauſes und wünſchten noch, den Oraniern den
Beſitz Belgiens, mindeſtens als eine Secundogenitur zu erhalten. Auf
Preußens Verlangen wurden auch die Rechte des Deutſchen Bundes auf
Luxemburg ausdrücklich vorbehalten und dem Bundestage die Erledigung
dieſer Streitfrage zugewieſen. Immerhin waren die Grundſteine für den
künftigen belgiſchen Staat bereits gelegt, und in Berlin erwog man
ſchon die Frage: was nunmehr aus den Feſtungen an der Südgrenze
werden ſolle, da man den Belgiern weder die Macht noch den guten
Willen zutraute, ſie gegen Frankreich zu vertheidigen. Feldmarſchall
Diebitſch meinte, dann bleibe nur übrig, einen Theil der neuen Feſtungen
wieder zu ſchleifen, und der preußiſche wie der ruſſiſche Hof ſchloß ſich
dieſer Anſicht an.**) Um den Niederlanden doch einen Schutz gegen einen

*) S. o. III. 731.
**) Diebitſch, Denkſchrift über die belgiſchen Feſtungen 12./24. Oct. Bernſtorff,
Weiſung an Bülow, 4. Nov. Neſſelrode, Weiſung an Alopeus 12. Nov. (a. St.) 1830.
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[52/0066] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. den drei Feſtlandsmächten gegenüber. Palmerſton hatte einſt als Mit- glied des Tory-Cabinets Liverpool ſelber mit theilgenommen an der Schöpfung des Vereinigten Königreichs; aber noch gleichmüthiger als Wellington ließ er den alten Schützling fallen um deſſen Feinde zu er- muthigen. Sofort trat er in vertraulichen Verkehr mit dem jungen van de Weyer, den die Belgier nach London geſendet hatten, einem klugen und beſonnenen Staatsmanne. Belgien ſollte für England werden, was man von den Vereinigten Niederlanden vergeblich erwartet hatte, ein abhängiger, ergebener Bundesgenoſſe. Darum wetteiferte Palmerſton mit Talleyrand in Gunſtbeweiſen gegen die aufſtändiſchen Belgier. Obgleich der Franzoſe anfangs die Rolle der uneigennützigen Tugend mit gewohnter Kunſtfertig- keit ſpielte, ſo mußte doch die Stunde kommen, da er ſeine Karten auf- deckte; und dann konnte dieſer freundſchaftliche Wettkampf der beiden wahlverwandten Geiſter nur mit dem Siege des Britten endigen, da England nicht in der Lage war belgiſches Gebiet für ſich zu fordern und mithin den Oſtmächten minder gefährlich erſchien. Gleich der erſte Beſchluß der Conferenz gereichte den Belgiern zum Vortheil. Ein Waffenſtillſtand ward verkündigt und von beiden kämpfen- den Theilen willig angenommen. Darin lag, obwohl man den Namen noch vermied, ſchon die Anerkennung der Aufſtändiſchen als einer krieg- führenden Macht. Ganz auf die gleiche Weiſe, durch das Gebot der Waffenruhe, hatten England, Frankreich und Rußland vor drei Jahren die Errichtung des griechiſchen Staates diplomatiſch eingeleitet. *) Am 20. December ward ſodann die Selbſtändigkeit der ſüdlichen Niederlande bis zu der alten Nordgrenze vom Jahre 1790 als Grundſatz ange- nommen, allerdings mit Vorbehalt der Rechte des Königs; denn alle Mächte, auch Frankreich, mißbilligten die in Brüſſel verkündigte Ent- thronung des königlichen Hauſes und wünſchten noch, den Oraniern den Beſitz Belgiens, mindeſtens als eine Secundogenitur zu erhalten. Auf Preußens Verlangen wurden auch die Rechte des Deutſchen Bundes auf Luxemburg ausdrücklich vorbehalten und dem Bundestage die Erledigung dieſer Streitfrage zugewieſen. Immerhin waren die Grundſteine für den künftigen belgiſchen Staat bereits gelegt, und in Berlin erwog man ſchon die Frage: was nunmehr aus den Feſtungen an der Südgrenze werden ſolle, da man den Belgiern weder die Macht noch den guten Willen zutraute, ſie gegen Frankreich zu vertheidigen. Feldmarſchall Diebitſch meinte, dann bleibe nur übrig, einen Theil der neuen Feſtungen wieder zu ſchleifen, und der preußiſche wie der ruſſiſche Hof ſchloß ſich dieſer Anſicht an. **) Um den Niederlanden doch einen Schutz gegen einen *) S. o. III. 731. **) Diebitſch, Denkſchrift über die belgiſchen Feſtungen 12./24. Oct. Bernſtorff, Weiſung an Bülow, 4. Nov. Neſſelrode, Weiſung an Alopeus 12. Nov. (a. St.) 1830.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/66>, abgerufen am 18.04.2024.