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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 3. Enttäuschung und Verwirrung.
ihm zu viele unverarbeitete Kenntnisse eingeprägt wurden, einer gefähr-
lichen Halbbildung und Anmaßung verfallen. Schon in den zwanziger
Jahren bemerkte Harnisch, der verdiente Direktor der Seminarien von
Breslau und Weißenfels: die althergebrachten Sünden der Roheit und
Dieberei würden unter seinen Zöglingen seltener, dafür nähmen Dünkel
und Weltsinn überhand.

Bedenklicher war, daß die Volksschule, die ja den großen Wandlungen
der Ideen immer nur in einigem Abstande folgen kann, an dem erstar-
kenden religiösen Leben der drei letzten Jahrzehnte kaum theilgenommen
hatte. Sie stand noch immer unter der Herrschaft der Lehren Pestalozzi's.
Wohl war es einst eine schöne Zeit der Erweckung gewesen, als der edle
schweizerische Sonderling den verknöcherten Schulunterricht auf die leben-
dige Anschauung und Selbstthätigkeit zu begründen unternahm, als er in
Lienhard und Gertrud, in dem Buche der Mütter die Erzieher lehrte sich
liebevoll in das Seelenleben ihrer Zöglinge zu versenken. Damals be-
wunderten ihn fast alle namhaften Männer Deutschlands, die gläubigen
Stein und Arndt so gut wie der radicale Fichte, und Königin Luise dankte
ihm im Namen der Menschheit. Aber der Gedanke der abstrakten, allge-
meinen Menschlichkeit, der ihn, den Illuminaten, den Ehrenbürger der
französischen Republik begeisterte, konnte dem vertieften religiösen Gefühle,
der schärferen historischen Kritik dieser neuen Tage längst nicht mehr ge-
nügen. Alle praktische Humanität der modernen Geschichte -- das begann
man endlich zu begreifen -- wurzelte, bewußt oder unbewußt, im Chri-
stenthum, in der Idee der Gotteskindschaft, in dem königlichen Gesetze der
Liebe; der Herzenshärtigkeit der heidnischen Völker, die sich allesammt für
die auserwählten ansahen, war sie immer fremd geblieben, wenngleich
einzelne große Denker sie als ein theoretisches Ideal verherrlichten. Zu
menschlicher Freiheit konnte die moderne Jugend nur durch eine christlich-
religiöse Erziehung herangebildet werden; und dies galt vornehmlich von
den Volksschulen, denn ein hellenisches Sittlichkeitsideal, wie es etwa einem
Wilhelm Humboldt vorschwebte, war wesentlich aristokratisch und schloß die
Banausen aus, denen nur die demokratische Moral des Christenthums
Trost und Frieden zu bringen vermochte. Pestalozzi selbst hatte diese
Wahrheit allmählich begriffen und sich im Alter dem lebendigen Christen-
glauben zugewendet. Die Mehrzahl seiner Schüler und Anhänger da-
gegen hing noch immer an dem alten Wahne, daß man dem Baume der
Menschenliebe seine christlichen Wurzeln abgraben und doch im Schatten
seines Wipfels sich lagern könne. Ein freundlicher, bequemer Rationalismus
herrschte in den Volksschulen vor; der Religionsunterricht behauptete keines-
wegs überall seine natürliche Stellung in der Mitte des Lehrplans. Seit
der Cabinetsordre vom 23. März 1829 wurde die Errichtung von Simultan-
schulen immer begünstigt, wenn die Gemeinden sich darüber freiwillig einig-
ten und für confessionelle Schulen nicht die genügenden Mittel besaßen;

V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
ihm zu viele unverarbeitete Kenntniſſe eingeprägt wurden, einer gefähr-
lichen Halbbildung und Anmaßung verfallen. Schon in den zwanziger
Jahren bemerkte Harniſch, der verdiente Direktor der Seminarien von
Breslau und Weißenfels: die althergebrachten Sünden der Roheit und
Dieberei würden unter ſeinen Zöglingen ſeltener, dafür nähmen Dünkel
und Weltſinn überhand.

Bedenklicher war, daß die Volksſchule, die ja den großen Wandlungen
der Ideen immer nur in einigem Abſtande folgen kann, an dem erſtar-
kenden religiöſen Leben der drei letzten Jahrzehnte kaum theilgenommen
hatte. Sie ſtand noch immer unter der Herrſchaft der Lehren Peſtalozzi’s.
Wohl war es einſt eine ſchöne Zeit der Erweckung geweſen, als der edle
ſchweizeriſche Sonderling den verknöcherten Schulunterricht auf die leben-
dige Anſchauung und Selbſtthätigkeit zu begründen unternahm, als er in
Lienhard und Gertrud, in dem Buche der Mütter die Erzieher lehrte ſich
liebevoll in das Seelenleben ihrer Zöglinge zu verſenken. Damals be-
wunderten ihn faſt alle namhaften Männer Deutſchlands, die gläubigen
Stein und Arndt ſo gut wie der radicale Fichte, und Königin Luiſe dankte
ihm im Namen der Menſchheit. Aber der Gedanke der abſtrakten, allge-
meinen Menſchlichkeit, der ihn, den Illuminaten, den Ehrenbürger der
franzöſiſchen Republik begeiſterte, konnte dem vertieften religiöſen Gefühle,
der ſchärferen hiſtoriſchen Kritik dieſer neuen Tage längſt nicht mehr ge-
nügen. Alle praktiſche Humanität der modernen Geſchichte — das begann
man endlich zu begreifen — wurzelte, bewußt oder unbewußt, im Chri-
ſtenthum, in der Idee der Gotteskindſchaft, in dem königlichen Geſetze der
Liebe; der Herzenshärtigkeit der heidniſchen Völker, die ſich alleſammt für
die auserwählten anſahen, war ſie immer fremd geblieben, wenngleich
einzelne große Denker ſie als ein theoretiſches Ideal verherrlichten. Zu
menſchlicher Freiheit konnte die moderne Jugend nur durch eine chriſtlich-
religiöſe Erziehung herangebildet werden; und dies galt vornehmlich von
den Volksſchulen, denn ein helleniſches Sittlichkeitsideal, wie es etwa einem
Wilhelm Humboldt vorſchwebte, war weſentlich ariſtokratiſch und ſchloß die
Banauſen aus, denen nur die demokratiſche Moral des Chriſtenthums
Troſt und Frieden zu bringen vermochte. Peſtalozzi ſelbſt hatte dieſe
Wahrheit allmählich begriffen und ſich im Alter dem lebendigen Chriſten-
glauben zugewendet. Die Mehrzahl ſeiner Schüler und Anhänger da-
gegen hing noch immer an dem alten Wahne, daß man dem Baume der
Menſchenliebe ſeine chriſtlichen Wurzeln abgraben und doch im Schatten
ſeines Wipfels ſich lagern könne. Ein freundlicher, bequemer Rationalismus
herrſchte in den Volksſchulen vor; der Religionsunterricht behauptete keines-
wegs überall ſeine natürliche Stellung in der Mitte des Lehrplans. Seit
der Cabinetsordre vom 23. März 1829 wurde die Errichtung von Simultan-
ſchulen immer begünſtigt, wenn die Gemeinden ſich darüber freiwillig einig-
ten und für confeſſionelle Schulen nicht die genügenden Mittel beſaßen;

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[238/0252] V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung. ihm zu viele unverarbeitete Kenntniſſe eingeprägt wurden, einer gefähr- lichen Halbbildung und Anmaßung verfallen. Schon in den zwanziger Jahren bemerkte Harniſch, der verdiente Direktor der Seminarien von Breslau und Weißenfels: die althergebrachten Sünden der Roheit und Dieberei würden unter ſeinen Zöglingen ſeltener, dafür nähmen Dünkel und Weltſinn überhand. Bedenklicher war, daß die Volksſchule, die ja den großen Wandlungen der Ideen immer nur in einigem Abſtande folgen kann, an dem erſtar- kenden religiöſen Leben der drei letzten Jahrzehnte kaum theilgenommen hatte. Sie ſtand noch immer unter der Herrſchaft der Lehren Peſtalozzi’s. Wohl war es einſt eine ſchöne Zeit der Erweckung geweſen, als der edle ſchweizeriſche Sonderling den verknöcherten Schulunterricht auf die leben- dige Anſchauung und Selbſtthätigkeit zu begründen unternahm, als er in Lienhard und Gertrud, in dem Buche der Mütter die Erzieher lehrte ſich liebevoll in das Seelenleben ihrer Zöglinge zu verſenken. Damals be- wunderten ihn faſt alle namhaften Männer Deutſchlands, die gläubigen Stein und Arndt ſo gut wie der radicale Fichte, und Königin Luiſe dankte ihm im Namen der Menſchheit. Aber der Gedanke der abſtrakten, allge- meinen Menſchlichkeit, der ihn, den Illuminaten, den Ehrenbürger der franzöſiſchen Republik begeiſterte, konnte dem vertieften religiöſen Gefühle, der ſchärferen hiſtoriſchen Kritik dieſer neuen Tage längſt nicht mehr ge- nügen. Alle praktiſche Humanität der modernen Geſchichte — das begann man endlich zu begreifen — wurzelte, bewußt oder unbewußt, im Chri- ſtenthum, in der Idee der Gotteskindſchaft, in dem königlichen Geſetze der Liebe; der Herzenshärtigkeit der heidniſchen Völker, die ſich alleſammt für die auserwählten anſahen, war ſie immer fremd geblieben, wenngleich einzelne große Denker ſie als ein theoretiſches Ideal verherrlichten. Zu menſchlicher Freiheit konnte die moderne Jugend nur durch eine chriſtlich- religiöſe Erziehung herangebildet werden; und dies galt vornehmlich von den Volksſchulen, denn ein helleniſches Sittlichkeitsideal, wie es etwa einem Wilhelm Humboldt vorſchwebte, war weſentlich ariſtokratiſch und ſchloß die Banauſen aus, denen nur die demokratiſche Moral des Chriſtenthums Troſt und Frieden zu bringen vermochte. Peſtalozzi ſelbſt hatte dieſe Wahrheit allmählich begriffen und ſich im Alter dem lebendigen Chriſten- glauben zugewendet. Die Mehrzahl ſeiner Schüler und Anhänger da- gegen hing noch immer an dem alten Wahne, daß man dem Baume der Menſchenliebe ſeine chriſtlichen Wurzeln abgraben und doch im Schatten ſeines Wipfels ſich lagern könne. Ein freundlicher, bequemer Rationalismus herrſchte in den Volksſchulen vor; der Religionsunterricht behauptete keines- wegs überall ſeine natürliche Stellung in der Mitte des Lehrplans. Seit der Cabinetsordre vom 23. März 1829 wurde die Errichtung von Simultan- ſchulen immer begünſtigt, wenn die Gemeinden ſich darüber freiwillig einig- ten und für confeſſionelle Schulen nicht die genügenden Mittel beſaßen;

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/252>, abgerufen am 19.03.2024.